Nachspielzeit lässt Wölfe heulen
Vor der Begegnung – diesmal nicht nur aus kommerziellen Telenovela-Zwecken als Topspiel deklariert – gestaltete sich eigentlich alles so wie immer: Ein Spiel, das niemand braucht, in einer Stadt, die niemand braucht, gegen einen "Verein", den absolut niemand braucht. Wolfsburg, eines der beliebtesten Reiseziele innerhalb der Bundesliga. Die Geschichte ist alt und wird dauernd verwendet. Aber angebrachtes WOB-Bashing sollte stets erlaubt sein und ist nach wie vor salonfähig.
Fußball-Puristen, die es in unserem schwarzgelben Lager ja zu Hauf geben soll, freuten sich beim Blick auf die Aufstellung schon eine Stunde vor Spielbeginn. Zunächst hatte Coach TT den Versuch gewagt und ein mittelgroßes Geheimnis daraus gemacht. Er ließ sich sprichwörtlich nicht in die Karten schauen. Dann aber tauchte ein lange vermisster und dabei doch so beliebter Name in der Startelf auf: Neven Subotic. Selten konnte ich den Ausfall eines Stamminnenverteidigers so gelassen zur Kenntnis nehmen, wie vor dieser Partie. Neven hatte es sich verdient – der Vorzeigprofi schlechthin, der die letzten schwierigen Wochen zumindest privat mit sinnvoller Stiftungsarbeit überbrücken konnte und so weiterhin den Kopf für das runde frei hatte, denn ein Murren ob seines Bank beziehungsweise Tribünenplatzes war nie auch nur im Ansatz zu vernehmen. Neben ihm komplettierte ein ebenso bedeutender Borusse die durch einen Virus arg dezimierte Innenverteidigung. Manni Bender machte seinen Job hervorragend, um das schon mal vorweg zu nehmen. Ginter ersetzte Weigl vor der Abwehr, Piszczek gab den Rechtsverteidiger.
Die Stimmung im Gästeblock gestaltete sich von Beginn an - schon Minuten vor dem Anpfiff - sehr gut. Es war mal wieder ein geschlossenes Auftreten spür- und auch klar hörbar. Die Wechselgesänge funktionierten, die Optik konnte sich sehen lassen. Die Optik in Bezug auf Zaunfahnen war dann aber auch maßgeblich für die Entwicklung im zweiten Durchgang, als durch wohl ungerechtfertigtes und unbegründetes rüdes Eingreifen der Ordner eben jene Zaunfahnen verschwinden mussten. Diese Aktion führte zum abrupten Stimmungsabbruch, die Lust auf Support war ob dieser Störung des ultralichen Gesamtbildes der Optik verschwunden. Einige Male versuchte der Oberrang noch die bekannten Gassenhauer anzustimmen, viel kam aber auf der Haupttribüne nicht mehr an. Schade, denn gerade in der zweiten Hälfte, als die Kräfte der Mannschaft zu schwinden schienen, hätte pushender Support sicherlich gut getan, zumal man ja noch führte. Da sollte dann schon die Frage gestattet sein, wie wichtig den Fans im Stehplatzbereich der Verein und sein sportlicher Auftritt ist – auch wenn die Gründe für das Stimmungstief heute sicherlich eher nachzuvollziehen waren als bei anderen Begebenheiten.
Die erste halbe Stunde jedenfalls ließ den Gästeblock in positiver Hinsicht ausrasten, denn den schwarzgelben Anhängern im „VW-Abgaskessel“ wurde eine Vollgasveranstaltung vom Feinsten geboten. Auswärts. Beim Tabellendritten. Bei einem Team, das seit 29 Heimspielen ungeschlagen war. Gerade in den Anfangsminuten war die Chancenverwertung mal wieder zum Haarraufen. Freistoß Gündogan: Latte. Bender aus drei Metern nach Hereingabe Mkhitaryan: Latte. Piszczek rechts frei durch, quer in den Strafraum: Abgeblockt. So viel spielerische Kunst gepaart mit druckvollem Pressing, Wolfsburg fand keine Mittel und konnte sich nur gelegentlich befreien. Und gerade in einer Phase, in der der VFL so ein bisschen nach vorn zu spielen versuchte, vollstreckte Reus eiskalt im Vorbeigehen an Benaglio. Mkhitaryan hatte dem leicht überforderten Guilavogui den Ball vom Fuß gespitzelt, Reus reagierte am schnellsten, umkurvte den Keeper und schob locker ein. Hier und da kam WOB noch zu eher ungefährlicheren Abschlüssen, aber der Ballspielverein nahm die Führung hochverdient mit in die Kabine. Die Gastgeber waren mit dem 0:1 bi dato noch gut bedient.
Der zweite Durchgang ist trotz mehrerer Wolfsburger Chancen eigentlich recht schnell erzählt – bis zur 90. Minute jedenfalls. So richtig viel klappte bei unseren Jungs da nämlich nicht mehr. Wolfsburg nahm das Heft in die Hand und schnürte den BVB zunehmend in der eigenen Hälfte ein. Viele Ecken und die erwartet zahlreichen Flanken. Schürrle über links war einige Male durch, vertändelte glücklicherweise aber fast alle Aktionen. Gündogan hatte es nach Foul in der ersten Halbzeit am Po und musste zu Beginn des zweiten Durchgangs runter. Mit ihm schwand so ein wenig die Ordnung, denn an den Mann gebrachte Bälle waren leider Mangelware. Länger als zehn Sekunden konnte der Ball kaum in den eigenen Reihen gehalten werden, ohne Wolfsburg dabei wirklich zum absoluten Powerplay und Dauerfeuer kommen zu lassen. Trotzdem wurden so viele Konter leicht hergeschenkt, weil die Bälle ungenau oder gar nicht zum eigenen Mann gespielt wurden. Die dickste Chance allerdings (61. Minute) wurde durch Bürki eingeleitet und durch selbigen auch vereitelt. Ein fataler Fehlpass direkt in den Fuß von Dost, dann legt sich Bürki auch noch halb hin, weil er den Querpass vermutet, springt dann hoch und wirft sich in den Schuss. Unglaubliche Szene! Wer hat’s erfunden…
Dann bricht quasi schon die Nachspielzeit an und jeder beginnt, die Sekunden herunterzuzählen. Der glücklose Schürrle zieht noch ein letztes Mal von links in den Strafraum, durch Subotic und Piszczek hindurch und fällt dann. Elfmeter. Berechtigt? Ich weiß es nicht. Irgendwie auch jetzt noch nicht. Live im Stadion war mein Urteil klar: „Niemals!“ Nach Ansicht der Fernsehbilder würde ich es leicht modifiziert mit Goethe und seinem „Halb zog Piszczek ihn, halb sank er hin“ halten. Der Elfer war gegeben, die Kacke dampfte. Und plötzlich stand es 1:1. Ein Punkt, mit dem ich im Vorfeld wahrscheinlich sogar ziemlich zufrieden gewesen wäre. Aber nicht mehr jetzt, nach dieser grandiosen ersten Halbzeit. Obwohl nach diesen völlig verschiedenen Durchgängen die Punkteteilung wahrscheinlich sogar gerecht daherkam. Aber was soll der Geiz. Wir sind hier ja nicht beim KICKER. Also völlig unverdient dieser Müll. Dachten sich anscheinend auch unsere Jungs und holten in der dritten Minute der Nachspielzeit noch mal den „Fußball-3.0-Konsolen-Spielzug-Siegtreffer“ aus der Schatulle. Was ein Finish! Piszczek direkt auf Mkhitaryan, der direkt weiter in die Mitte auf den durchstartenden (eingewechselten) Kagawa aus dem Land des aufgehenden Tor-Lächelns. Da hielt es auch mich auf der Pressetribüne nicht mehr auf den komfortablen Sitzen und jeder konnte erkennen, aus welchem Lager das Medium entstammte, für das ich da auf dem Laptop rumtippte. Wahnsinn. Ein bisschen wie Málaga für den kleinen Mann. Zehn Punkte auf WOB. Geil, geiler, BVB.
Und so erzählte diese Partie am Ende dann doch zwei wunderschöne Geschichten. Zum einen die wie schon Eingangs erwähnte Subotic-Story, der nach einer für ihn persönlich sehr enttäuschend verlaufenden Hinrunde wieder einmal einen großen Auftritt hatte und ein sehr sehr ordentliches Spiel (ohne große Wettkampfpraxis) absolvierte und gemeinsam mit Manni den Laden dicht hielt. Zum anderen so ein bisschen die Wiedergeburt der von Klopp oft zitierten Mentalitätsmonster, die auch nach Rückschlägen wissen, wo das gegnerische Tor zu finden ist. Da juckte es auch nicht, dass Watzke nach dem Spiel so gar nicht mit der Leistung des Schiedsrichters einverstanden war, der nicht nur einen vielversprechenden Konter im zweiten Abschnitt unterband und den Elfer pfiff, sondern auch noch Tuchel des Innenraums verwies, als dieser zu ekstatisch (auch in Richtung der WOB-Bank) über die neuerliche Führung gejubelt hatte. Sei’s drum. Auswärtssieg! Booooooooom.
Bisschen Statistik
VW: Benaglio - Vieirinha, Naldo, Klos , R. Rodriguez – Guilavogui (Dost), Arnold - D. Caligiuri (Träsch), Draxler - M. Kruse - Schürrle
Der BVB: Bürki - Piszczek , Subotic , S. Bender , Schmelzer - Ginter – Gündogan (Kagawa), Castro (Park) - H. Mkhitaryan , Reus – Aubameyang (Hofmann)
Tore: 0:1 Reus (Mkhitaryan) 32. ; 1:1 Rodriguez (E, Piszczek an Schürrle) 90+1.; 1:2 Kagawa (Mkhitaryan) 90+3.
Torschüsse: 22 : 14
Ballbesitz: 57 % : 43%
Stimmen
Coach Tuchel: „Wer uns ab der 40. Minute hier gesehen hat, der weiß wo unser Fokus hingeht und dass wir einen weiten Weg vor uns haben. Wir tun gut daran, nicht von noch größeren Zielen zu sprechen. Wir wollen Herausforderer von Gladbach, Leverkusen und Wolfsburg sein. Diese Teams haben in diese Saison etwas mitnehmen können, was uns abhanden gekommen war: der Glaube, in Serie gewinnen zu können, Wir sind da auf einem sehr, sehr guten Weg. Wir wissen, wie wichtig und wie schwer es war, hier und heute zu gewinnen. Wir empfinden es als Bestätigung, so viele Punkte geholt zu haben, aber das entlässt uns nicht aus der Pflicht, auf dem Boden zu bleiben und am Donnerstag sowie am Sonntag in den beiden Heimspielen den jeweils nächsten Schritt zu machen.“
Coach Hecking: "Nach dem Anstoß zum 1:1 haben wir zu schnell den Ball hergegeben. Du wirst bestraft, obwohl du einen Riesenaufwand betrieben hast. Wir haben am Anfang unsäglich viele Fehler gemacht. Wir schenken das 0:1. Nach einer halben Stunden haben wir das Spiel im Griff gehabt."
Tim, 06.12.2015