Ein Hauch von 2010
„Dieser Kindergarten nagelt durch die Liga als gäbe es kein Morgen!“ So oder so ähnlich hatte Jürgen Klopp den Beginn der Saison 2010/2011 einst beschrieben, an dessen Ende damals bekanntlich die Meisterschaft stand.
Zugegeben, der Begriff „Kindergarten“ ist bei der heutigen Mannschaft nicht mehr so ganz richtig am Platz und auch sonst ist einiges erwachsener und reifer geworden. Sowohl die Spieler auf dem Platz, als auch das Spielsystem und nicht zuletzt die Beziehung zwischen Fans und Verein sind nicht mehr von dieser kindlich-naiven, unglaublich ehrlichen Atmosphäre geprägt, die im Herbst 2010 geherrscht und die dem Ganzen „durch die Liga nageln“ einen so märchenhaften Touch gegeben hatte.
Dass sich der BVB, anders als einige Zweitligisten, vor den Karren des größten Hetzblattes des Landes hat spannen lassen, entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der Fans, passt zu dem Graben zwischen Fans und Verein, der sich im Moment außerhalb des Platzes auf zu tun scheint und der diametral steht zur Euphorie rund um die Mannschaft auf dem Rasen.
Aber nicht nur in dem Punkt unterscheidet sich das Gefühl von 2010 von dem von 2015. Die Mannschaft ist älter, abgeklärter, reifer. Sie spielen nicht euphorisch, sondern kontrolliert. Das Spielsystem beruht nicht auf überfallartigen Angriffen, sondern auf kontrolliertem Passspiel und geduldigem Herausspielen von Chancen.
Dennoch sind es nicht nur die Lieder, die im Moment einen Hauch von 2010 ins Westfalenstadion tragen…
Der BVB 2015 erinnert in seiner Dominanz, Leichtigkeit und der unerschütterlichen Überzeugung vom Sieg sehr stark an die Mannschaft von 2010. Auch das heutige Spiel bot wiederum reichlich Momente, an denen man sich in der Zeit zurückversetzt gefühlt hat.
Erste Halbzeit
Dass Leverkusen dabei trotz einer leichten Schwächephase keine Laufkundschaft sein würde, das sollte alleine die Statistik der letzten Spiele gegen die Werkself zeigen. Oder um beim Thema zu bleiben: 2010 hatte man das Heimspiel gegen die Pillendreher vom Rhein mit 2:0 verloren und die Kommentatoren, die damals davon geschwärmt hatten, wohl den zukünftigen deutschen Meister gesehen zu haben, meinten nicht den BVB…
Die ersten 20 Minuten spielte Borussia richtig stark. Von Beginn an ließ der BVB im heimischen Stadion keinen Zweifel aufkommen, wer das Spiel gewinnen würde. Nach zwei guten Chancen (Mhkitaryan und Gündogan) war es in der 19. Minute Jonas Hofmann, der die verdiente Führung erzielte. Ein langer Ball aus der eigenen Hälfte von Kagawa, Hofmann sprintet, schaut und sieht, dass der Ball knapp vor dem Strafraum runter kommen würde und läuft in Position. Im Gegensatz zu Leno im Leverkusener Tor, der in Mathe wohl nicht aufgepasst hat und die Flugkurve des Balles falsch einschätzte, wodurch er wie ein Hampelmann neben dem Ball durchsprang und Hofmann wenig Mühe mehr hatte, den Ball gekonnt zwischen Torwart und Verteidiger durch in den Maschen zu versenken.
Das erste Mal wurde es richtig laut im Tempel. Der schöne BVB wurde besungen und die gewagte Prognose in den Raum gestellt, dass man nicht nur den U-UEFA-Cup holen wird, sondern auch die Meisterschale. Dabei schwankt man als Fan zwischen leichter Selbstironie, wie bei den Meistergesängen Anfang 2010, und der damals kaum vorhandenen begründeten Hoffnung, basierend auf dem Wissen von 2010, dass es solche Fußballmärchen tatsächlich gibt - zumindest in Dortmund.
Nur wenig später hatte es Leverkusen jedoch auf dem Fuß, das Fest relativ abrupt zu beenden, Chicharito war jedoch nicht in der Lage die sprichwörtliche Steilvorlage in ein Tor zu verwandeln. Bürki hatte in dem Moment zwar nicht gehalten, durch sein schlaues rauskommen jedoch zumindest dafür gesorgt, dass dem Angreifer nicht allzu viele Optionen zum Abschluss blieben und so war er dann auch nicht ganz unbeteiligt daran, dass der Neuzugang aus England den Ball am Tor vorbei schob.
Das Spiel wurde jetzt offener, mit Chancen auf beiden Seiten, die jedoch allesamt vergeben oder von den Torhütern vereitelt wurden.
Zweite Halbzeit
Gleich zu Beginn der zweiten Halbzeit wurde dem BVB ein ziemlich eindeutiger Elfmeter verwehrt, als Aubameyang mehr als deutlich umgerissen wurde im Strafraum, Schiedsrichter Aytekin blieb jedoch bei seiner fahrigen Linie und ließ weiterlaufen.
Kurz danach hatte Aubameyang das 2:0 auf dem Fuß, als er alleine auf Leno zulief, den Ball aber nicht am Leverkusener Torhüter vorbei brachte.
Auch die Leverkusener Kichererbse hatte erneut eine große Chance auf den Ausgleich, vergab aber erneut freistehend vor Bürki, als er den Torhüter zur Abwechslung anschoss.
Und dann fiel doch noch das erlösende und auch verdiente 2:0. Durch gekonntes Pressing hatten die Borussen den Ball an der Strafraumkante in Person von Ginter zurückerobert, von wo der Ball über Gündogan und Mhkitaryan schließlich bei Kagawa landete. Was zuerst aussah wie ein ziemliches Stolpertor, erwies sich beim zweiten Anblick als eine sehr gekonnte Aktion. Dass der kleine, leichte Kagawa sich nicht nur dem Drücken und Schubsen eines Papadopoulos erwehrt, der gefühlt doppelt so groß und fünfmal so schwer ist, sondern dabei auch noch den Ball kontrolliert und am Torhüter vorbei ins Tor spitzelt zeugt von großer Qualität. Und dass er sich nicht einfach umschubsen lässt und auf Elfmeter hofft auch von großem Charakter. Zumindest Shinji ist wieder ganz der 2010er, praktisch auf den Tag genau 5 Jahre nachdem er an einem denkwürdigen Tag in der verbotenen Stadt zum Dortmunder Helden geworden ist.
Nun durfte natürlich auch Pipi Langstrumpf nicht fehlen und das Stadion tauchte liedtechnisch ganz in die alten Zeiten ab. „Wer wird deutscher Meister? BVB Borussia! Wer wird deutscher Meister? Borussia BVB!“ hallte es durch die flutlichtbeleuchteten Weiten des Dortmunder Fußballtempels. Was kann Fußball schön sein!
Leverkusen hatte nicht mehr viel entgegenzusetzen. Ein von Bürki entschärfter Freistoß war das höchste der Gefühle in einer Halbzeit, die durch und durch schwarzgelb war. Als Ginter im Strafraum umgezupft wurde, entschied Deniz „die Fahne im Wind“ Aytekin diesmal – wohl zurecht – auf Strafstoß und Mr. 100% hämmerte den Elfmeter platziert und unhaltbar ins Eck. 3:0, Drops gelutscht, jetzt gings ans Feiern!
Tatsächlich wurde nun das ganze 2010er Liedrepetoire aufgeführt, ergänzt vom Supergirl und dem BVB-Walzer und so schunkelte man sich dem Ende entgegen, während auf dem Rasen zuerst Kagawa, dann Gündogan, Schmelzer und zuletzt Castro teils höchstkarätige Chancen auf das vierte Tor vergaben. Wobei gegen Castro am Ende sogar der Pfosten retten musste. Leverkusen musste letztendlich froh sein, dass es nicht mehr als die drei Gegentreffer geworden sind, als der Schiedsrichter die Partie nach kurzer Nachspielzeit für beendet erklärte.
Es fühlt sich im Moment tatsächlich irgendwie ähnlich an, wie das Fußballmärchen im Herbst 2010. Zu schön, um wahr zu sein und gleichzeitig zu dominant, um vergänglich zu sein. Der BVB in der Verfassung ist kaum zu schlagen und das Westfalenstadion mit diesen Vollgasveranstaltungen und dieser gigantischen Stimmung schlichtweg der beste Ort der Welt! Mit einem Hauch von 2010...
Noten
Bürki: Machte einen sicheren Eindruck, rettete einmal in höchster Not mit dem Kopf, klärte zwei 1:1-Situationen gekonnt. Die Abwehr macht mit ihm im Rücken zudem einen stabileren Eindruck. Note 2.
Ginter: Wirkte defensiv souveräner als noch gegen Krasnodar, hatte einige offensive Aktionen und holte den Elfmeter raus. Fast schon wie gewohnt stark. Note 2.
Sokratis: Räumt einfach alles kompromisslos aus dem Weg. Ein Arbeiter vor dem Herrn. Ein Fußballer, wie ihn sich das Ruhrgebiet wünscht. Die Ellenbogen darf er aber unten lassen. Note 2,5.
Hummels: Wirkte äußerst souverän, abgeklärt und wieder nahe an seiner Topform. Ließ die Leverkusener teilweise wie Schuljungen stehen. Note 2.
Schmelzer: War etwas unauffälliger als Ginter, aber immer wieder offensiv eingebunden und defensiv kaum gefordert. Note 2,5.
Gündogan: Zwischen Genie und Wahnsinn. Mit vielen Fehlpässen und falschen Entscheidungen in der Offensive, aber auch mit genialen Momenten und zwei guten Abschlüssen. Note 3.
Weigl: Gibt es noch Superlativen, die noch nicht gebraucht wurden für ihn? Defensiv abgeklärt wie ein 35jähriger, offensiv mit unglaublicher Übersicht und einer genialen Passquote. Note 1,5.
Hofmann: Schoss das 1:0, war quirlig und aktiv, immer am Arbeiten, besitzt jedoch nicht ganz die Genialität seiner offensiven Mitstreiter. Note 2,5.
Kagawa: Der Derbyheld von 2010 spielt, als wäre er nie weggewesen. Quirlig, technisch stark, immer torgefährlich und dazu beim 2:0 durchsetzungsstark. Daneben auch noch das 1:0 vorbereitet. Note 1.
Mkhitaryan: Auch wenn seine Schüsse heute für einmal nicht im Tor landeten, ist es eine Augenweide dem Armenier bei der Arbeit zuzusehen. Zudem die Vorlage zum 2:0 gegeben. Note 1.
Aubameyang: Mr. Zuverlässig. Selbst wenn er die Chancen so wie heute nicht verwertet und eher unauffällig agiert, bleibt er immer gefährlich. Als Elfmeterschütze cool wie Eis. Note 2,5.
Januzaj: Das Talent strömt ihm aus den Ohren raus, er wirkt jedoch noch nicht eingebunden ins Spiel und hat gewisse Durchsetzungsschwierigkeiten. Ein Diamant, der noch geschliffen werden muss. Note 3,5.
Ramos: Nicht lange genug auf dem Platz für eine Bewertung.
Castro: Nicht lange genug auf dem Platz für eine Bewertung.
Stimmen zum Spiel
Marcel Schmelzer: Wir dürfen uns jetzt nicht ausruhen, können aber trotzdem stolz sein. Heute war es ein ganz anderes Spiel als Donnerstag, wo wir gegen einen sehr tief stehenden Gegner spielen mussten. Nur in der ersten Halbzeit haben wir kurz nachgelassen, aber trotzdem war es ein gefährliches Spiel, da Leverkusen ein starker Gegner ist. Nach dem Auftaktsieg gegen Gladbach habe ich schon gesagt, dass die Offensivreihe defensiv weiter so arbeiten muss. Nicht nur der Defensive gehört das Lob.
Roman Bürki: Wir hatten einfach mehr Torchancen und die meistens auch genutzt, auch wenn Leno zwei-, dreimal gut gehalten hat. Wir haben nicht viel zugelassen und das Wenige gemeinsam im Team auch wieder vereitelt. Wir können stolz sein auf diese Teamleistung. Bei 1:1-Situationen gegen mich setzt mein Team die Angreifer meistens so sehr unter Druck noch, sodass ich nur noch reagieren oder antizipieren muss, weil der Gegner zu Lösungen gezwungen wird. Wir haben bisher hart und konzentriert gearbeitet und wollen die Fans weiter begeistern. In Hoffenheim kommt es nur auf uns an, nicht auf den Gegner. Mit der Tabelle befassen wir uns nicht, sondern nur mit den Dingen, die wir weiter verbessern wollen.
Roger Schmidt (Trainer LEV): Gratulation an Thomas und seine Mannschaft. Der Sieg für den BVB war heute absolute verdient. Man konnte sehen und erkennen, warum der BVB 11 Pflichtspielsiege in Folge einfuhr. Wir wussten, dass wir hier sehr gut in Form und bereit sein müssten. Auch individuelle Fehler hätten wir vermeiden und zudem unsere Chancen nutzen müssen. Das haben wir heute alles nicht geschafft. Seit dem Sieg gegen Lazio haben wir an Schärfe verloren.
Thomas Tuchel: Der Beginn, die ersten 20, 25 Minuten waren sehr gut. Wir waren sehr dominant und hatten eine gute Struktur, die Dinge spielerisch zu lösen. Nach dem 1:0 war es ein offeneres Spiel als wir das haben wollten. Leverkusen hat uns mehr und mehr ihr Tempo aufgezwungen und uns hat die Klarheit gefehlt. Es ging dann vermehrt um zweite Bälle und es war insgesamt sehr intensiv. Es gab Momente, wo Leverkusen hätte ausgleichen können, aber das gehört in solch einem Spiel dazu. Dann bekamen wir wieder Vertrauen und wurden erneut dominanter. Mit der letzten halben Stunde war ich deshalb wieder sehr zufrieden, da wir eine große Schärfe auf dem Platz und in der Kabine ausstrahlten. Man sah, dass wir unbedingt wollten. Bei Marco Reus war uns das Risiko einer Folgeverletzung heute einfach zu groß.
Statistiken
BVB (4-2-3-1): Bürki – Ginter, Sokratis, Hummels, Schmelzer – Gündogan, Weigl – Hofmann (63. Januzaj), Kagawa, Mkhitaryan (81. Ramos) – Aubameyang (87. Castro)
IG Farben (4-2-2-2): Leno – Donati, Tah, Papadopoulos, Wendell – Kampl, Kramer (46. Brandt) – Bellarabi (78. Henrichs), Calhanoglu – Chicarito, Kießling (46. Mehmedi)
Tore: 1:0 Hofmann (19., Rechtsschuss, Vorarbeit Kagawa), 2:0 Kagawa (58., RS, Mkhitaryan), 3:0 Aubameyang (74., Rechtsschuss, Foulelfmeter, Wendell an Ginter)
Schiedsrichter: Aytekin (Oberasbach), Assistenten: Dietz, Beitinger – 4. Mann: Dr. Drees
Zuschauer: 81.359 (ausverkauft)