Spektakel in Hannover - wie immer
Um es eiskalt vorwegzunehmen und jegliche, künstlich aufgebaute Spannung zu eliminieren: Wir sind weiterhin Tabellenführer und schleifen den Rest der Liga hinter uns her – klingt ungewollt arroganter, als es tatsächlich ist.
Nach der leider üblichen Länderspielpause Anfang September war es Hannover 96 vorbehalten, der nächste Prüfstein der schwarzgelben Konstanz zu sein. Mit floskelhaft großem Selbstvertrauen reiste der BVB-Tross in die niedersächsische Landeshauptstadt. Im Mannschaftsbus dann eine kleine Neuerung gegenüber den letzten Auftritten: Den freien Platz von Marco Reus, der es leider nicht mehr rechtzeitig schaffte, seinen Zeh auf 100 Prozent zu schrauben, besetzte Neuzugang Adnan Januzaj. Das von Manchester United ausgeliehene Talent deutete ja bereits am Dienstag im Millerntor-Stadion an, was er zu leisten im Stande ist. Adrian Ramos war erkältet und konnte die Reise ebenso nicht antreten. Sein Platz im Kader wurde von Joo-Ho Park besetzt, der kurz vor Ende der Transferfrist von Mainz 05 verpflichtet wurde.
Beim wohl letzten sommerlichen Auswärtsspiel im Kalenderjahr 2015 hatte Schwarzgelb das Stadion im Griff. Knapp 10.000 Borussen fanden den Weg ins Niedersachsenstadion. Weite Bereiche rund um den Gästeblock in Ober- und Unterrang waren klar und deutlich in schwarzgelber Hand, aber auch in vielen anderen Teilen des Stadions konnten die schwarzgelben Punkte nicht ignoriert werden. Bezeichnend für die Dominanz war der schon vor Anpfiff lautstarke Auftritt der Gästeanhänger, als das Absingen der Hannoveranischen Hymne gut hörbar unterbrochen wurde – und das trotz zusätzlicher Beschallung aus den Lautsprechern. Eine insgesamt sehr ansprechende Gästeblock-Leistung während der 90 Minuten.
Die ersten unangenehmen Erfahrungen für viele Borussen gab es allerdings schon beim Betreten des Gästebereichs. Wie leider oft in Hannover, wurde der schmale Eingangsbereich zu den Stehplätzen den Massen nicht Herr, zumal auch das sichtlich überforderte Personal nur allzu langsam mit seiner Arbeit hinterherkam. Diese Kombination führte blöderweise zu großem Gedrängel, sodass einige der vorne stehenden Personen durch die Absperrungen durchbrechen mussten, weil von hinten zu viel geschoben wurde. Eine Vollsperrung durch Ordnerpersonal und Polizei war dann die Folge, wobei vor allem die Ordner sich mental fragwürdig verhielten und eine sehr aggressive Grundhaltung an den Tag legten.
Hofmann ersetzte Reus in der Startelf und war Teil der Offensive, die ab der ersten Spielminute das Geschehen auf dem Rasen dominierte. Die ganze Mannschaft schob sich tief in die Hälfte der anfänglich überforderten 96er. Drückende Überlegenheit was die Spielanteile anbelangte, nur konnten die ganz klaren Torchancen in der ersten Viertelstunde noch nicht notiert werden – ein Geduldsspiel deutete sich an. Plötzlich fiel dann das lang erwartete Tor. Nur dummerweise auf der anderen Seite. Man musste sich schon stark die Augen reiben, wie es dazu kommen konnte, dass der Gastgeber in Führung ging. Wobei das Gegentor an sich ein für schwarzgelbe Verhältnisse typisches war: Ein Ballverlust im Mittelfeld + eine hoch aufgerückte Viererkette + ein Zuckerpass in die Schnittstelle + Überzahl für den Gegner im Strafraum = Rückstand. Das Rezept für den Gegentorkuchen. Für ein paar Millisekunden musste man sich Gedanken machen, ob der erste Rückstand dieser Bundesligasaison psychische Blockaden aufbauen und Hannover nun die Oberhand gewinnen würde. Wie gesagt, ein Zustand von Millisekunden, denn der BVB zog direkt die Zügel wieder an. Tore lagen in der Luft, die Aktionen rund um den Strafraum wurden von Minute zu Minute klarer und drückender.
Bei der spielerischen Überlegenheit war es dann eher ungewöhnlich, dass ein Elfmeter für den Ausgleich herhalten musste. Aber der Einsatz von 96-Verteidiger Felipe gegen Hofmann war so unklug, dass Schiri Siebert letztlich keine Wahl blieb als auf den Punkt zu zeigen. Natürlich nahm Hofmann die Situation dankend an, aber mit dem Rücken zum Tor konnte er mit dieser Intensität, mit der Felipe in den Zweikampf gerauscht kam, wohl kaum rechnen. Aubameyang vom Punkt ganz sicher. Ausgleich in der 35. Minute. Man war wieder halbwegs im Plan. Nur zehn Minuten später ging der Plan dann vollends auf. Eine tolle Seitenverlagerung nahm Außenverteidiger Ginter auf rechts super auf, behielt den Kopf oben und bediente Mkhitaryan mustergültig an der Strafraumkante. Der 2015/16-Mkhitaryan ließ sich nicht zweimal bitten und schweißte das Leder unhaltbar ins linke obere Eck. Führung mit dem Halbzeitpfiff. Hochverdient!
Hannover nahm sich für die zweite Halbzeit Erstaunliches vor: Man wollte anscheinend genauso destruktiv weiterspielen wie im ersten Durchgang. Wobei destruktiv nicht immer passte. Es gab so viele Situationen, in denen klar wurde, dass im technischen Bereich einfach nicht mehr möglich war. Bezeichnend dafür die vielen Bälle, die die 96-Verteidiger einfach ins Seitenaus schlugen – schier hilf- und kopflos. Aber Spiele in Hannover bringen meist ein Spektakel mit sich und viele Tore sowieso. Und ja, unsere Defensive ist manchmal auch prädestiniert dafür, sich Gegentore quasi selbst einzuschenken. So wieder mal geschehen in der 53. Minute. Hannover schleppte den Ball zum ersten Mal in der zweiten Halbzeit in unsere Spielhälfte und schon klingelte es. Prib durfte gefühlte 100 Meter ungestört durch die schwarzgelben Abwehrreihen laufen – das defensive Zusammenspiel zwischen den Mannschaftsteilen funktionierte in einigen Abschnitten des Spiels nur unzureichend – und schlug dann einen Diagonalball. Hummels stand schlecht und kam nicht mehr an den Ball. Schmelzer rannte nicht wirklich konsequent durch, sodass Sobiech völlig frei stand, das Leder unter Kontrolle brachte und trocken einnetzte. Sein zweites Tor an diesem Tag. Und wieder komplett aus dem Nichts.
Die Reaktion beim Ballspielverein stimmte abermals. Wieder spielten unsere Jungs unbeirrt weiter und behielten in den Offensiv-Aktionen die Ruhe. Die erneute Führung lag in der Luft, auch wenn Hannover es nun schaffte, sich einige Male kurzfristig zu befreien. Insgesamt ist Hannover in dieser Verfassung ein Hauptanwärter auf einen der unteren Plätze. Einzig und allein dieses kleine miese Bauchgefühl, unsere Defensive könnte noch mal einen Bock schießen, hielt die Spannung aufrecht.
In der 67. Minute dann endlich die überfällige Führung. Kagawa mit einem genialen hohen Ball durch den Strafraum auf den aufgerückten Ginter. Und als hätte der nie was anderes gemacht, als Tore vorzubereiten, nahm er den Ball direkt aus der Luft und legte quer auf Aubameyang, der gar nicht mehr an den Ball kam. Felipe grätschte äußerst un(glücklich) dazwischen und bescherte uns die neuerliche Führung. Peter Knäbel, Direktor Profifußball beim großen HSV, hatte auf den Business-Seats Platz genommen – ohne Rucksack - und machte sich bestimmt fleißig Notizen. Dieser Felipe wäre doch vielleicht einer für die Hamburger: unkonventionell, immer auf das Wohl des Gegners bedacht, chaotisch.
Er legte sogar noch einen nach und Knäbel konnte eine weitere Fähigkeit ergänzen: Volleyball. Handspiel im Strafraum (85. Minute) und die Entscheidung für unsere Borussia. Aubameyang durfte zum zweiten Mal an den Punkt und blieb auch hier wieder cool, mit einem Lupfer unter die Latte. Muss vielleicht nicht sein, sieht dann aber doch ziemlich geil aus. 4:2. Auswärtssieg. Die Hannover-Fans flüchteten aus dem Stadion und die Gästekurve sang sich die Kehlen heiser. Nicht nur das Liedgut weckte so ein wenig die Erinnerungen an den „Geist von 2011“…
Statistik
Hannover 96: Zieler - Sakai, Marcelo, Felipe, Albornoz - Sorg, Sané - Andreasen, Kiyotake, Prib – Sobiech
neuer/alter Tabellenführer: Bürki – Ginter, Sokratis, Hummels, Schmelzer – Weigl – Hofmann, Gündogan, Kagawa, Mkhitaryan – Aubameyang
Tore: 1:0 Sobiech (18., Andreasen), 1:1 Aubameyang (35., Foulelfmeter, Felipe an Hofmann), 1:2 Mkhitaryan (44., Ginter), 2:2 Sobiech (53., Prib), 2:3 Felipe (67., Eigentor, Ginter), 2:4 Aubameyang (85., Aubameyang, Handelfmeter, Felipe)
Zuschauer: 49.000 (aauuuusverkauft )
Stimmen
Thomas Tuchel: "Dieser Sieg fühlt sich verdient an, es war eine tolle Teamleistung. Mit der Dominanz der ersten Halbzeit war ich sehr zufrieden und auch mit der Reaktion auf den Ausgleichstreffer am Ende. Wichtig für die Entwicklung der Mannschaft war auch, dass sie nach dem überraschendem 0:1-Rückstand geduldig geblieben ist."
Mats Hummels: "Es war ein sehr spannendes Spiel. Genauso hatten wir es erwartet. Die Spiele hier in Hannover sind immer eng gewesen – meistens mit dem besseren Ende für uns. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich hier erst einmal verloren. Es waren sehr viele enge, sehr umkämpfte Spiele. So wie heute. Wir haben erst mit dem 4:2 den Deckel drauf gemacht. Bis dahin war es wirklich offen."
Tim, 13.09.2015