Dortmunder Fantage - Taksim ist überall
Fußball, das ist für viele mehr als nur 90 Minuten am Wochenende. Für viele heißt Fußball auch, sich zu engagieren und seine Meinung lautstark zu verkünden. Bei der zweiten Veranstaltung im Rahmen der Dortmunder Fantage ging es genau darum. Fußball als Motor für gesellschaftspolitisches Engagement.
Am Montag, den 02.11.2015 war es zum zweiten Mal so weit. Die Fanbetreuung und die Fanabteilung luden gemeinsam zu den Dortmunder Fantagen. Zusammen mit dem Fanclub International e.V. präsentierte man die Veranstaltung „Taksim ist überall! – Gesellschaftspolitisches Engagement von Fußballfans“. Ein Titel, der keine Fragen bezüglich des Themas offen ließ. Im Wesentlichen bestand der Abend aus zwei Teilen: Der Vorführung eines 20-minütigen Ausschnitts des Films „Ayaktakımı“ (deutsch „Fußmannschaft“ im Sinne von Pöbel oder Gesindel“) und einer anschließenden Diskussionsrunde mit den beiden Machern des Films Naz Gündoğdu und Friedemann Pitschak, Inan Kaya als Anwalt und Mitglied der Ultrasgruppe Çarşı, sowie den „Einheimischen“ Jakob Scholz von der FA und Wanne von The Unity.
Der Film
Anders als der bereits veröffentlichte Film „Istanbul United“ ist „Ayaktakımı“ ein reines Amateurprojekt, das allein durch Crowdfunding finanziert wurde. Ungefähr ein halbes Jahr reisten Gündoğdu und Pitschak durch die türkischen Stadien mit dem Ziel, die sich immer weiter verschärfenden Repressionen gegenüber türkischen Fußballfans zu dokumentieren. Es geht dabei vor allem, aber eben nicht ausschließlich um die Gezi-Proteste. In dem ca. 20-minütigen Ausschnitt kam ein Fan des Zweitligisten Göztepe zu Wort, der erzählte, wie er und seine Leute bei Auswärtsspielen häufiger durch einen Polizeikorridor wortwörtlich geprügelt werden. Man sah Bilder von Fans von Gençlerbirliği Ankara, die schon seit geraumer Zeit sowohl Heim- als auch Auswärtsspiele nur noch gemeinsam am TV schauen, weil sie den Stadionbesuch seit Einführung des E-Tickets „Passolig“ boykottieren. Für diese kostenpflichtigen E-Tickets müssen die Fans ihre gesamten persönlichen Daten angeben, gleichzeitig erfolgt eine Totalüberwachung durch den Einsatz von Kameras mit Gesichtserkennung. „Praktischerweise“ wird man mit Beschaffung des E-Tickets gleichzeitig ein Kunde der Aktif Bank, die der Regierung um Recep Tayyip Erdoğan nahesteht. Und natürlich die Gezi-Proteste, bei denen die Besiktas-Gruppe Çarşı eine führende Rolle einnahm. Wasserwerfer und Tränengas gegen Fußballfans – Bilder, die einem einen Schauer über den Rücken jagen. Mit eindringlichen Worten schildert ein Çarşı-Mitglied, wie stolz man darauf sei, für seine Ideale einzustehen und sich auch trotz massiver Strafen nicht vom Staat und der Polizei einschüchtern lassen wird. Extra für den gestrigen Abend hatten die beiden Macher auch noch Filmmaterial eingeschnitten, in dem gesagt wird, dass man in der Türkei die Spruchbänder in den deutschen Kurven sehr wohl wahrgenommen und sich über die Unterstützung gefreut habe.
Aktuell wird „Ayaktakımı“ noch fertig gestellt, ein konkreter Veröffentlichungstermin ist noch nicht bekannt. Die gezeigten Minuten haben jedoch definitiv Lust auf mehr gemacht, auch wenn Lust in diesem Zusammenhang vielleicht das falsche Wort ist. Neben all den schlimmen und sprachlos machenden Bildern gibt er auch Einblicke in eine Fankultur, bei der das oft bemühte Schlagwort von „Football without politics“ offenbar so gar keine Rolle spielt. Selbst bei den Fangesängen ist neben ganz viel Pathos auch immer wieder ein Bezug zur gesellschaftlichen Situation und sogar konkret zu den handelnden Politikern zu erkennen.
Çarşı
Im Anschluss an den Film erzählte der für diesen Abend extra aus Istanbul angereiste Inan Kaya, der als Anwalt nicht nur Çarşı-Mitglieder vertritt, sondern auch selber in der Gruppe aktiv ist, etwas über die Hintergründe der Gruppe und die Geschehnisse rund um die Gezi-Proteste. Bekanntermaßen gibt es in Istanbul drei große Vereine: Galatasaray, die eher der Oberschicht zugerechnet werden, Fehnerbahçe als Vertreter des Bürgertums und Beşkitaş, der als Verein des Volkes gilt. So ergibt sich schon aus den Wurzeln eine gewisse gegen-die-da-da-oben-Haltung.
Gegründet wurde Çarşı in den 80er Jahren, das sei selber aber gar nicht so wichtig. Wichtig ist, wofür Çarşı steht. Die Gruppe ist schon immer gesellschaftspolitisch aktiv, führt soziale Projekte für Bedürftige durch und nimmt regelmäßig im Stadion auf Bannern und Transparenten Stellung zum gesellschaftlichen Tagesgeschehen. Sie geht dabei weit über das Themengebiet „Fußball“ hinaus und äußerte sich z.B. kritisch zum Verhalten der Regierung beim Grubenunglück von Soma oder dem geplanten Bau eines neuen Atomkraftwerks. Auch wenn Çarşı ausdrücklich keine politische Gruppe, sondern einfach ein Sammelbecken treuer Besiktas-Fans ist, war nach Kayans Worten sehr leicht verständlich, warum das „a“ in Çarşı auch in Form des Anarchie-As ausgeführt wird. Und wer das aktuelle politische Geschehen in der Türkei und das Vorgehen der Regierungspartei AKP um Erdoğan verfolgt, der kann sich auch sehr leicht ausmalen, dass Çarşı sich damit bei der Politik und der Polizei alles andere als beliebt gemacht hat. So lieferten dann auch die Proteste rund um die Bebauung des Gezi-Parks einen hervorragenden Grund, gegen die Gruppe vorzugehen. Çarşı selbst stellte sich dabei aktiv und an vorderster Front gegen die Polizeitruppen, die ihrerseits mit aller Härte gegen die Demonstranten vorging. Die Tränengasschwaden sollen noch Leute in einer Entfernung von einem Kilometer verletzt haben.
Jakob und Wanne blieb am Ende dann auch nicht mehr viel übrig, als erschrocken festzustellen, dass die Probleme von uns Fans hier in Deutschland noch vergleichweise klein sind im Vergleich zu dem, was in anderen Ländern vor sich geht. Das macht Maßnahmen wie Kontingentreduzierungen oder Kollektivstrafen zwar nicht besser, sollte aber auch Mut machen, dass in anderen Ländern Fußballfans noch unter weit schlimmeren Bedingungen für Ideale einstehen.