Dortmunder Jungs - Dede
Heute steigt das Abschiedsspiel für eine echte BVB-Legende. Dede dribbelte sich als Linksverteidiger in die Herzen aller Borussen. Als er im Jahr 2011 die Borussia verließ, weil er seinen Stammplatz nach einigen Verletzungen an Marcel Schmelzer verloren hatte, bereiteten ihm die BVB-Fans einen Abschied, wie es ihn in der Bundesligageschichte wohl noch für keinen Spieler gegeben haben dürfte. Im Buch "Dortmunder Jungs" von Achim Multhaupt und Felix Meininghaus erzählt Dede seine Geschichte
Als ich nach Dortmund kam, wusste ich nichts von der Stadt und ihren wunderbaren Menschen. Ich stamme aus Belo Horizonte, ich bin dort in der Favela aufgewachsen. Da interessieren sich die Menschen nicht für Europa, sondern dafür, wie sie überleben können. Allerdings war mir Borussia Dortmund ein halbes Jahr vor meiner Verpflichtung aufgefallen, als sie in Tokio den Weltpokal gewannen. Gegen Cruzeiro, das ist der große Rivale meines Heimatklubs Atletico Mineiro. Das Verhältnis dieser beiden Vereine ist ungefähr so wie das zwischen Dortmund und Schalke. Von daher war mir der BVB schon mal äußerst sympathisch, weil er gegen Cruzeiro gewonnen hatte.
Der junge Manager, der zu uns nach Brasilien kam, um mich zu holen, war Michael Zorc. Ich war sein erster Transfer, daran haben wir noch heute Spaß, wenn wir darüber reden. Ich hatte übrigens ein halbes Jahr zuvor einen Vorvertrag mit Bayer Leverkusen unterschrieben, aber der kam dann Gott sei Dank nicht zustande, weil sie Zé Roberto holten. Im Nachhinein betrachtet habe ich ganz schön Glück gehabt. Ich bin richtig happy, dass das nicht geklappt hat.
Ich bin also nach Dortmund gekommen und konnte kein Wort Deutsch. Für mich als jungen Mann war das richtig hart. Zum ersten Mal weg von zu Hause, und dann noch so weit, in einer fremden Welt. Man darf nicht vergessen, ich war damals gerade mal 20 Jahre alt. Ich habe jeden Tag vor Heimweh geweint, meine Telefonrechnung betrug 3000 oder auch mal 4000 Mark pro Monat. Damals gab es ja noch kein Internet. Also habe ich meine Mama angerufen oder mit anderen Leuten gesprochen, die mir nahestehen. Ich habe sechs Brüder und jede Menge Freunde und Kollegen. Da, wo ich groß geworden bin, lernst du viele Leute kennen.
Um meine Situation zu verstehen muss man wissen, dass es bei Borussia Dortmund damals überhaupt noch nicht diese Strukturen gab, wie sie heute üblich sind. Zum Beispiel hatte ich keinen Dolmetscher, der sich um mich kümmerte. Von Zeit zu Zeit ist Astrid Keppmann, die Sekretärin von Michael Zorc, eingesprungen, sie spricht ein paar Brocken Spanisch. Das hat ein bisschen geholfen, wenn auch nicht viel, denn mein Spanisch ist wirklich nicht gut. Bei Auswärtsspielen gab es skurrile Szenen, wenn unser Trainer Michael Skibbe seine Taktik erläuterte. Da rief dann jemand in Dortmund bei Frau Keppmann an, Skibbe beschrieb ihr, was er von mir will, gab den Hörer an mich weiter, und dann versuchte sie, mir das auf Spanisch zu erklären. Ich hab vielleicht 20 Prozent verstanden, aber das war schon mal besser als gar nichts.
Auch heutiger Sicht klingt das unglaublich, aber das war damals der Standard. Auf dem Platz ging es mir von Anfang an gut, da fühlte ich mich wohl. Weil ich wusste, was ich zu tun hatte. Außerhalb des Platzes hat es bestimmt eineinhalb Jahre gedauert, bis ich mich einigermaßen eingelebt hatte. Ich bekam eine Deutschlehrerin, aber mit der war es auch nicht so leicht. Die wollte mir alles ganz genau beibringen, die ganze Grammatik und so. Aber mich interessierte nur, was ich für das tägliche Leben brauchte: Links, rechts, oben, unten und diese Sachen. Das war ein richtiger Kampf mit ihr. Sie sagte: „Junge, Du musst vernünftig Deutsch lernen“, und ich habe geantwortet: „Dafür habe ich keine Zeit.“
Also habe ich mir eine Kassette gekauft mit den wichtigsten Worten auf Deutsch und Portugiesisch. Ob im Bus oder im Flugzeug, die habe ich überall gehört, und so habe ich ein bisschen was gelernt. Geholfen hat mir aber auch, dass die Mannschaft unheimlich nett zu mir war: Andi Möller, Icke Hässler, Chapuisat, Feiersinger, Jürgen Kohler – die haben sich alle um mich bemüht. Für mich war das unheimlich wichtig, denn ich fühlte mich wie ein Baby, das jetzt beim Champions-League-Sieger spielt. Die Integration auf dem Platz verlief super, ich hatte meinen Stammplatz, auf dem Rasen war alles gut.
Wäre da nur nicht dieses schlimme Heimweh gewesen! Das blieb, obwohl ich regelmäßig Besuch hatte. Doch wenn der mich nach zwei Wochen wieder verließ, flossen am Flughafen Tränen. Und dann kam auch noch der Winter, den kannte ich ja überhaupt nicht. Einmal bin ich zehn Minuten zu spät zum Training gekommen, weil ich ein Taxi nehmen musste. Als ich später gefragt wurde, was denn los sei, habe ich gesagt, mein Auto sei kaputt. Wir sind dann zu mir gefahren, und ich bekam zu hören: „Dede, das Auto ist nicht kaputt. Die Scheiben sind zugefroren, im Winter musst Du kratzen.“ Ich wusste bis dahin tatsächlich nicht, dass es so etwas gibt.
Eine andere unglaubliche Geschichte ist die von meinem Haus. Ich war in Dortmund zuerst zwei Wochen im Hotel untergekommen, danach bezog ich das Haus, in dem vorher der Co-Trainer von Nevio Scala gewohnt hatte. Ich bin da rein und habe mich gewundert, dass der Mann seine ganzen Klamotten dagelassen hatte. Der war doch längst gefeuert und zurück in Italien. An einem Sonntag im Sommer sitze ich mit meinem Bruder im Wohnzimmer, wir schlürfen Eis, und ich habe nur meine Unterhose an. Auf einmal geht die Tür auf, der Typ und seine Frau stehen vor mir, und das Theater geht los. Der schreit auf Italienisch rum, ich verstehe nichts und antworte ihm auf Portugiesisch – es war das absolute Chaos. Das einzige, was ich mitbekommen habe, war „Polizia“ – anscheinend dachte er, ich sei ein Einbrecher. Der war richtig aggressiv, seine Frau übrigens auch, es war kurz davor, handgreiflich zu werden.
Nach einigen klärenden Telefonaten wurde mir gesagt, ich solle erstmal zurück ins Hotel, bis der Typ das Haus ausgeräumt hat. Danach konnte ich wieder einziehen. Das Verrückte war: Der wusste nichts von mir, ich nichts von ihm und niemand hat sich darum gekümmert.
Das war schon krass, weil niemand richtig zuständig war. Später habe ich mich um die Brasilianer gekümmert, die beim BVB spielten. Das war mir wichtig, damit die einen besseren Start als ich hatten. Zuerst kamen Evanilson und Amoroso, später hat dann Ewerthon drei Monate bei mir gewohnt. Die Leute nannten es „Samba-WG“, ich war so etwas wie der Integrationsbeauftragte. Besonders schön war die Zeit mit meinem Bruder. Eines der wertvollsten Geschenke, die ich von Gott und Borussia Dortmund bekommen habe, war es, mit Leandro zusammen in der Champions League spielen zu dürfen. Als uns Matthias Sammer in Auxerre mitteilte, dass wir beide abends auflaufen, bekam ich Herzrasen, so aufregend war das. Ich war 2002 zwar schon vier Jahre bei der Borussia und damit ein erfahrener Spieler, aber als das Spiel angepfiffen wurde, haben meine Beine trotzdem gezittert.
Leider hatte ich in meiner Anfangszeit in Dortmund nicht das Glück, einen Spieler zu finden, der mich an die Hand nimmt. Auf der anderen Seite denke ich, dass mich genau das stark gemacht hat. Ich hatte ja schon in der Favela gelernt, mit schweren Situationen umzugehen. Schließlich war ich immer auf der Straße und musste schon im Alter von acht Jahren kleine Jobs übernehmen, um Geld nach Hause zu bringen: Im Supermarkt Tüten packen oder Autos waschen. Den Rest der Zeit habe ich Fußball gespielt, für die Schule blieb da nicht viel Zeit.
Es war ein hartes Leben, aber es hat mir geholfen, in Deutschland zurechtzukommen. Außerdem spürte ich meine Verpflichtung: Ich musste Geld verdienen, um meiner Familie ein Haus kaufen zu können. Ich musste meiner Mama und meinem Vater etwas zurückgeben. Ich bin ein sehr gläubiger Mensch und sehe das so: „Gott hat Dir die Chance gegeben, Deiner Mutter, Deinem Vater und Deinen Brüdern ein vernünftiges Leben zu ermöglichen. Ein Haus, regelmäßig Fleisch, ein guter Standard.“ Deshalb habe ich mir jeden Tag gesagt: „Du hast nicht das Recht, diese Chance wegzuwerfen. Du musst das hier schaffen.“ Damals war es üblich, dass Brasilianer einen Vertrag in Italien, Spanien, England oder Deutschland unterschrieben, das Geld nahmen und ein halbes Jahr Theater machten und sagten: „Ich habe Probleme, ich gehe wieder zurück.“ Doch mein Vater wollte das nicht. Er hat gesagt: „Dede, mach es wie ein Mann. Wenn es gar nicht geht, kommst Du zurück, aber ich will, dass Du es wirklich versuchst.“
Also wollte ich den Vertrag in Dortmund unbedingt erfüllen. Drei Jahre und dann weg. Am Ende sind es 13 Jahre geworden. Und das, obwohl es dem Verein zwischendurch wirklich schlecht ging und ich gute Angebote aus der Bundesliga, vom AS Rom und aus Russland hatte. In der Zeit, als Borussia fast pleite war, habe ich auf 40 Prozent meines Gehalts verzichtet. Ich will nicht falsch verstanden werden, ich habe damals immer noch ganz gut verdient. Aber woanders hätte es wesentlich mehr sein können. Ich glaube, in dieser Zeit habe ich etwas gewonnen, was mit Geld nicht zu bezahlen ist: Die Liebe und den Respekt der Leute.
Die meisten Profis denken anders als ich, und das ist vollkommen in Ordnung. Schließlich ist Fußball ein Geschäft, und deshalb sind Amoroso, Ewerthon, Rosický und viele andere auch gegangen. Ich bin geblieben, weil ich anders ticke. Ich bin da wie die Fans: Fußball ist für mich nicht in erster Linie ein Geschäft, Fußball kommt vom Herzen. Vielleicht ist das ja der Grund, warum die Chemie zwischen den Fans und mir vom ersten Tag an stimmte. Dieses Gefühl der Verbundenheit ist von Jahr zu Jahr mehr geworden. Klar, als Profis verdienen wir eine Menge Geld, aber das ist nicht alles. Dass die Menschen in Dortmund mich als Borussen sehen und mir ihre Liebe schenken, macht mich stolz und glücklich. Wenn ich heute aus der Türkei nach Hause komme, geht das schon am Flughafen los: Die Polizisten begrüßen mich und sagen, „Mensch Dede, schön, dass Du wieder da bist.“ Ich fühle mich dann wie ein Sohn, der zu seiner Mutter nach Hause kommt.
Es sind übrigens nicht nur die Dortmunder, die mich so aufnehmen. Ich war mal im Centro Oberhausen zum Einkaufen, da lief ein Schalker mit seinem Sohn rum, der mich ständig mit seinem Blick fixierte. Ich dachte, das gibt bestimmt gleich Ärger, da kam er auch schon auf mich zu und fragte mich, ob er ein Foto von ihm und mir machen kann: „Ich bin Schalker durch und durch“, hat er gesagt, „eigentlich hasse ich Borussia Dortmund. Aber Du bist die Ausnahme. Ich hab’ zu meinen Kindern gesagt, sie sollen sich ein Beispiel an Dede nehmen. Das ist ein treuer Spieler, so einen bräuchte jeder Verein.“ Das ist einer der schönsten Sätze, die ich in meinem Leben gehört habe. Wenn ich daran denke, bekomme ich immer noch Gänsehaut.
Meinen Abschied aus Dortmund werde ich für immer in meinem Herzen tragen. Es gibt für diese Emotionen keine Worte, zumindest kenne ich sie nicht. Was die Leute da für mich veranstaltet haben, war einfach unglaublich. Es fällt mir immer noch schwer, darüber zu reden, ohne in Tränen auszubrechen. Das ging ja schon im März los, als ich gesagt habe, dass ich weggehe. Die Entscheidung ist mir unheimlich schwer gefallen. Ich konnte nachts nicht schlafen, lief mit meinen Hunden durch den Wald, dabei sprach ich mit ihnen und mit Gott: „Meine Zeit hier geht zu Ende “, habe ich gesagt, „und das tut weh. Ich kann mir nicht vorstellen, woanders zu spielen.“ Genau in dieser Zeit war ich nachmittags in der Stadt unterwegs, als mich in der Fußgängerzone eine alte Frau erkannte, zu mir lief und mich weinend in die Arme nahm: „Dede“, sagt die Dame, „Du darfst nicht gehen. Du bist mehr als ein Spieler, Du bist einer von uns.“
Im April hatte ich Geburtstag und bekam einige Tage vorher einen Anruf von der Polizei, die mir mitteilten, dass sich Fans in der Stadt verabredet hatten, um mich zu feiern: „Tun Sie uns einen Gefallen“, sagte der Beamte, „gehen Sie da nicht hin. Wir wissen nicht, ob wir die Massen unter Kontrolle halten können.“ Am Ende haben sich zweieinhalbtausend Leute getroffen, um auf dem Hansa-Platz meinen Geburtstag zu begehen. Trotz aller Warnungen bin natürlich trotzdem da hin, weil mein Herz mir gesagt hat: „Du musst zu diesen Leuten.“ Es war eine Gänsehaut-Atmosphäre. Die Fans haben für mich gesungen und sind zu mir gekommen, um mir persönlich zu gratulieren. Unglaublich. Solche Gefühle kannst du nicht kaufen. Für kein Geld der Welt!
Es war eine unheimlich emotionale Zeit, wenn ich daran denke, läuft das in meinem Kopf wie ein Film ab. Ein DJ hat für mich ein Abschiedslied aufgenommen, das ich immer noch nicht hören kann, ohne zu weinen. Bis zum Saisonende wurde es immer mehr, und es gipfelte dann im letzten Saisonspiel gegen Eintracht Frankfurt und in den anschließenden Meisterschaftsfeierlichkeiten.
Spieler wie Nuri, Marcel, Neven, Kevin oder Lucas Barrios sind zu mir gekommen und konnten kaum begreifen, was da abging: „Ey Dede, was ist das denn? So etwas gibt es doch gar nicht!“ Mir haben Journalisten – nicht nur aus Dortmund, sondern auch aus München, Frankfurt, Stuttgart oder Berlin – gesagt, niemals in der Geschichte der Bundesliga sei ein Spieler auf diese Weise verabschiedet worden. Nicht einmal Lothar Matthäus.
Dass die Menschen das für mich gemacht haben, ist für mich der größte Sieg meines Lebens. Heute bin ich in der glücklichen Situation, zwei Orte zu haben, die ich meine Heimat nennen kann: Belo Horizonte in Brasilien und Dortmund. In Dortmund habe ich eine deutsche Frau, zwei Hunde und ein Haus, ich werde ich immer wieder hierhin zurückkehren. Diese Stadt und diesen Verein trage ich für immer in meinem Herzen. Wenn ich eines Tages sterbe, dann soll auf meinem Sarg eine Fahne von Borussia Dortmund liegen.
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