Sorry, Jogi!
„Sorry, Jogi!“ Damit möchte und muss ich meinen Kommentar zur Fußball-Weltmeisterschaft beginnen. Ja, auch ich gehörte spätestens nach der Europameisterschaft 2012 zu den wohl kritischsten Begleitern unseres Bundestrainers. Mit welcher Leidenschaftslosigkeit die deutsche Elf das Halbfinale gegen Italien bestritt, begleitet von einer abenteuerlichen taktischen Ausrichtung rund um Toni Kroos, ließ mich stark an unserem Bundestrainer zweifeln.
Zumal dieser Auftritt kein Einzelfall war: Schon 2008 und 2010 verlor die DFB-Auswahl nicht nur gegen Spanien, die Auftritte waren zudem insbesondere von einer grandiosen Unterlegenheit und insbesondere einem kaum bis nicht erkennbaren Siegeswillen geprägt. Und so gelangte ich im Nachgang der EURO 2012 zu dem Fazit: Unter diesem Bundestrainer werden wir keinen Titel holen. Mein Credo war klar: Jogi muss weg!
Doch da war nicht nur das Auftreten in den entscheidenden Turnierspielen. Insbesondere die Löwsche Personalpolitik stieß mir sauer auf. Die Thematik rund um die (Nicht-)Nominierung der Dortmunder Spieler wurde bereits zur Genüge durchgekaut. Doch da ist beispielsweise auch die Personalie Stefan Kießling. 113 Tore in 252 Spielen für Bayer Leverkusen sind eine eindrucksvolle Bilanz - und dennoch reichte es gerade einmal für sechs Länderspiele.
Ich konnte und kann es nicht verstehen, warum der Bundestrainer einem der über Jahre besten deutschen Stürmer nie eine echte Chance im Trikot mit dem Adler einräumte, weil diesem angeblich die internationale Klasse fehle. Im Gegenzug wird dann das Spielsystem aber mangels adäquater Sturmalternativen in eine Formation mit „falscher Neun“ umgewandelt.
Löws Personalführung sorgte für Irritationen
Doch auch die Personalführung des Bundestrainers irritierte mich. Da wurde 2012 ein Mats Hummels nach dem Italien-Spiel als der Sündenbock dargestellt. Klar, Mats hätte die Flanke außen verhindern können, aber einem Badstuber in der Mitte war ein Zweikampf gegen Balotelli auch nicht verboten. Das 0:1 resultierte aus einem kollektiven Defensivausfall. Und das entscheidende 0:2 resultierte final aus einem Stellungsfehler Philipp Lahms, der jedoch auch von seinen Vorderleuten alleingelassen wurde. Hier im Nachgang dann nur Mats Hummels als Individuum anzuprangern hielt ich nicht für sachdienlich.
Eine bodenlose Frechheit war die Aussage Löws aus dem Oktober 2012 mit Bezug auf Marcel Schmelzer, einem über Jahre konstant überzeugenden Linksverteidiger, der in Dortmund die Legende Dede verdrängte. Löw müsse zunächst gezwungenermaßen mit Schmelzer weiterarbeiten, weil er sich keine Außenverteidiger schnitzen könne. So eine öffentliche Bloßstellung gehört sich nicht. Umso irritierender mutete es dann zu Beginn dieser WM an, dass bei einem öffentlichen Mangel an Außenverteidigern ohne Not der wohl weltbeste Außenverteidiger Philipp Lahm ins Mittelfeld gezogen wurde, einen Bereich, in dem mit Bastian Schweinsteiger, Sami Khedira und Toni Kroos ohnehin ein Überangebot herrschte.
Überraschende Personalrochaden gegen Algerien
Das Algerien-Spiel war für mich ein weiteres Indiz, dass man Joachim Löw kritisch hinterfragen muss. Nach der Verletzung von Mats Hummels rückte nicht etwa Philipp Lahm auf den Posten des rechten Verteidigers zurück für den ins Zentrum verschobenen Jerome Boateng, sondern der absolute Neuling Shkodran Mustafi. Und selbst nach dessen Auswechslung gab es immer noch keine Chance für Kevin Großkreutz; jenen Spieler, der einen Großteil der vergangenen Saison als rechter Verteidiger - auch auf internationalem Parkett - überzeugt hat: Plötzlich rückte im laufenden Spiel doch Philipp Lahm nach hinten rechts zurück.
Auf der Gegenseite hat mich Höwedes zwar defensiv während des Turniers nicht enttäuscht, im Vorwärtsspiel sah man aber deutlich, dass Höwedes kein Außenspieler, sondern etatmäßiger Innenverteidiger ist. Ein Erik Durm, der ebenfalls einen Großteil der Saison sehr ansprechende Leistungen auf just dieser Position erbracht hat und zudem im vorletzten Testspiel vor der WM gegen Kamerun ein ansprechendes Debüt zeigte, erhielt keine Chance und spielte nach ebenjenem Kamerun-Spiel plötzlich überhaupt keine Rolle mehr.
Und so war insbesondere das Algerien-Spiel Wasser auf meine Mühlen, dass es unter Löw keinen Titel geben würde. Doch ich sollte mich täuschen. Dem knappen 1:0 gegen Frankreich folgte die 7:1-Gala gegen Brasilien und dann der Triumph im Maracana gegen Argentinien.
Löw ist Weltmeister geworden - mehr kann er nicht erreichen
Und so sehr ich den Bundestrainer oben nun auch kritisiert habe - mehr als den Titel kann ein Coach bei einer Weltmeisterschaft nicht gewinnen; insofern scheint er alles richtig gemacht zu haben. Da Löw nun mindestens bis zur EURO 2016 weiterzumachen scheint, setze ich meine Hoffnung für die kommenden Jahre in den abfallenden öffentlich-medialen Druck. Nun, da Löw nicht mehr in der Pflicht steht, endlich einen Titel holen zu müssen, setzt vielleicht ein Prozess der Milde und des Überdenkens ein, auch den bisher verschmähten Spielern mehr Einsatzzeiten bzw. überhaupt eine Chance einzuräumen.
Aber auch die Bilder vom Sonntagabend im Maracana sowie von der Fanmeile in Berlin vom Dienstagmittag suggerierten mir: Da ist eine feste Einheit entstanden, von der Nummer 1 bis zur Nummer 23.
Es mag sein, dass sich ein Kevin Großkreutz oder ein Erik Durm anfänglich über die oben genannten Punkte insgeheim geärgert haben, aber im Laufe des Turniers scheint in dieser Einheit jeder seine Rolle gefunden und mit Erfüllung gelebt zu haben. Eine Einheit und Euphorie, mit der die deutsche Nationalmannschaft noch einige Zeit erfolgreich durch die Qualifikationen und Turniere fliegen könnte. Insofern gebührt Joachim Löw und seinem Trainerteam letztlich mein voller Respekt und meine volle Anerkennung, dass sie das hinbekommen haben. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, sehe und räume meinen Fehler aber hier auch gerne ein und sage daher aufrichtig: Sorry, Jogi!
WM als Chance für Kevin und Co.?
Gerade die Bilder des in völliger Ekstase wirkenden Kevin Großkreutz nach dem Schlusspfiff in Rio de Janeiro vermittelten nicht den Eindruck eines völlig unzufriedenen Reservisten ohne Turniereinsatz. Mittlerweile scheint es vielmehr so, als dass sein öffentliches Image ihm im Ansehen beim Bundestrainer im Weg gestanden hat. Dies legt beispielsweise auch die Aussage Bastian Schweinsteigers nahe, wenn dieser bekennt, er habe gar nicht gewusst, dass Kevin „so ein super Typ“ sei. In den gemeinsamen Wochen in Brasilien konnte sich nun jeder im DFB-Team von Kevins Wesen überzeugen, sodass dieser in den kommenden Jahren vielleicht eine realistische Chance im Team bekommt.
Ich blicke nunmehr mit starkem Interesse auf die kommenden Jahre der Nationalmannschaft. Wie wird es weitergehen? Die von mir nicht für möglich gehaltenen Taten aus Brasilien haben mich überzeugt. Wenn Joachim Löw seinen Führungsstil gegenüber eigenen Spielern nun noch etwas modifiziert, dann könnte ich mir vorstellen, dass ich meine Begeisterung für die Nationalmannschaft, die irgendwann zwischen 2010 und 2012 abhanden gekommen ist, zurückgewinnen kann. Ich bin gespannt...
Daniel Mertens, 17.07.2014