Dortmund ist anders - oder auch nicht
Die Geschichte des BVB im Zeitraum 2008 bis 2014 könnte auch genau so gut in einem Märchenbuch stehen. Vom Aschenputtel zur hübschen Prinzessin in wenigen Jahren. So ein radikaler Wandel bewirkt zwangsläufig auch einen Wandel der Selbstauffassung. Das bringt die interessante Frage mit sich, wie wir den BVB im Jahr 2014 definieren. Als kommenden „global player", der versucht, sukzessive zu den Bayern aufzuschließen? Als symphatischen Gegenentwurf, der einen anderen Weg zum Erfolg verfolgt? Oder als Verein wie alle anderen auch, der momentan nur erfolgreicher ist als andere?
„Dortmund muss anders sein." - So Jürgen Klopp nach dem Pokalfinale. Ausgehend von dieser Forderung haben sich zwei Redakteure auf die Suche nach einer Standortbestimmung gemacht. Anders als was oder wer? Wie anders sind wir wirklich? Und woher kommt der Wunsch, sich von anderen Vereinen abzugrenzen?
Dortmund ist anders (Arne)
Borussia Dortmund ist anders als der FC Bayern. Eigentlich eine Binsenweisheit, oder? Spätestens wer der Siegerehrung im Berliner Olympiastadion beiwohnen durfte, kann daran doch auch kaum einen Zweifel haben. Hier die unterlegene Borussia, der die eigene Kurve minutenlang anerkennend applaudierte. Dort der siegreiche FC Bayern, dessen Anhang den neuerlichen Pokalsieg bestenfalls anerkennend zur Kenntnis nahm, sich insgesamt aber wohl noch ob des Champions-League-Ausscheidens grämte. Können Reaktionen gegensätzlicher sein?
Das ist nicht einmal als Vorwurf oder Häme gegenüber den Bayern zu verstehen: In den letzten zehn Jahren stand der FCB immerhin ganze siebenmal im Pokalfinale und fuhr nur einmal nicht mit dem Pokal im Gepäck nach München zurück. Am Saisonende im Berliner Olympiastadion zu stehen und den Sieg der eigenen Mannschaft zu bejubeln, ist für die Anhänger des FC Bayern völlig normal. Business as usual. Wer will es ihnen verdenken, dass das ganze Brimborium dabei irgendwann seinen Reiz und seine Anziehungskraft verliert?
Man muss sich das vor Augen führen: Die Bayern standen allein in diesem Zeitraum seit 2005 öfter im Pokalfinale als der BVB in den gesamten 71 Jahren, die der Wettbewerb existiert.
Noch eklatanter das Bild in der Liga: Nur dreimal (!) in den letzten 35 Jahren beendete der FC Bayern seine Spielzeit nicht unter den ersten drei Teams in der Tabelle. Nur ein einziges Mal (1992) qualifizierten sich die Bayern nicht für einen Europapokal. Wir dagegen...
Kurzum: Wir sind schon deswegen anders, weil der FC Bayern anders ist.
Es gibt wohl keine berechtigten Zweifel daran: Erfolg macht satt. Wäre Borussia Dortmund seit Jahrzehnten ähnlich chronisch erfolgreich wie der Münchner Ligaprimus, wir alle würden weitaus weniger enthusiastisch nach Berlin fahren, wir wären weniger zahlreich beim Autokorso dabei und wir wären selbst nach dem furiosen Spiel gegen Real wahrscheinlich mehr enttäuscht als stolz gewesen auf diese geile Truppe da unten auf dem Rasen, die dem späteren Europapokalsieger seine einzige Niederlage im Wettbewerb beifügte. Dass es nicht gereicht hat: „Scheiß drauf!" Aber wäre unsere Reaktion noch dieselbe, wenn wir bislang nicht einen dieser Titel auf dem Briefkopf hätten, sondern elf? Wohl kaum.
Exakt deswegen ist es vielleicht ganz gut, dass zur Identität des BVB auch das Scheitern gehört. 2008 in Berlin, 2013 in Wembley, in diesem Jahr erneut in der deutschen Hauptstadt. Und immer gegen die Bayern. Trotzdem nagt unser Triumph im Pokalfinale 2012 viel mehr an den Verantwortlichen des FCB, als alle unserer Niederlagen gegen die Roten zusammen es wirklich könnten – unwürdige Schiedsrichterentscheidungen mal außen vor.
Der irrsinnige Begriff des „deutschen Classico" signalisiert an dieser Stelle jedenfalls eine Nähe, die so gar nicht existiert. Denn während der FC Barcelona (22 Meisterschaften, 26 Pokalsiege, 15 Europapokale) und Real Madrid (32 Meisterschaften, 19 Pokalsiege, 11 Europapokale mit 63 beziehungsweise 62 großen Titeln jahrzehntelang Seite an Seite durch den spanischen und europäischen Fußball pflügen, erscheinen insbesondere die elf nationalen Titel und die zwei Europapokale des BVB einigermaßen mickrig im Vergleich. De facto hat es die Borussia zwischen Abstiegskämpfen und Fastpleiten nur sporadisch vermocht, dem FC Bayern als ernsthafter Konkurrent gegenüberzutreten.
Auch Die Niebaumschen Zeiten eines „FC Bayern auf sozialdemokratisch", wie Friedrich Küppersbuch einst spöttelte, sind lange vorbei. Selbst wenn der Fußballöffentlichkeit – auch und gerade jener in München – das von Hans-Joachim Watzke gebetsmühlenartig vorgetragene Understatement manchmal zum Halse raushängen mag. Und auch wenn es auf dem Spielfeld immer seltener tatsächlich so aussieht, was man Mannschaft und Trainer kaum hoch genug anrechnen kann: Borussia Dortmund und den FC Bayern trennen Welten.
Borussia Dortmund ist aber nicht nur anders als der FC Bayern, sondern auch als viele andere Vereine in der Liga. Auch das ist eine Binsenweisheit, denn tatsächlich hat ja jeder Verein so sein eigenes Charakteristikum, das ihn von den anderen unterscheidet.
Aber welcher Verein sonst pendelt so kontinuierlich zwischen Europapokalfinals (1996, 1993, 1997, 2002, 2013), Abstiegen und Fastabstiegen (1972, 1986, 2000, 2007) und Beinahe-Pleiten (1972, 1984, 2004/2005)? Mit Ausnahme eines Abstiegs in die Niederungen des Amateurfußballs haben jene, die den BVB seit den 60ern oder 70ern begleiten, praktisch jede verfügbare Emotion des Fußballs durchexerziert. Und selbst die vergangenen zehn Jahre der Borussengeschichte halten nahezu das komplette Spektrum positiver und negativer Emotionen bereits.
Borussia Dortmund ist tatsächlich anders. Und ich finde das gut.
Anders sein, das ist eine Frage des Standpunktes (Sascha)
Geben wir es ruhig offen zu: Ein Finale zu verlieren, ist ein doofes Gefühl. Und so war Jürgen Klopps wunderbar emotionale Rede im Anschluss an das Pokalfinale Balsam auf so manche Borussenseele.
"Möglicherweise feiern andere nur, wenn sie was gewonnen haben, aber Borussia Dortmund muss anders sein."
Klingt gut, nicht wahr? Andere mögen nur titelgeil (Pfui) sein, aber Dortmund ist anders. Und anders meint in diesem Fall für Viele: besser, ehrlicher und tiefer.
Für mich klingt es vor allem wenig dortmunderisch, sondern verdammt Bochum. Wie oft haben wir uns schon über unseren Nachbarn lustig gemacht, der sportlich zwar kilometerweit hinter uns und den Blauen herhängt, trotzdem aber nicht müde wird zu erwähnen, dass er der echtere Verein sei? Keine Eventfans (was mangels spielerischen Events vermutlich absolut stimmt) und wirtschaftlich ehrlich. Ein kleines Pflaster auf das komplexbeladene Mäusegemüt.
Aber was machen wir? Die Bayern haben in den letzten beiden Jahren fünf von sechs Titeln gewonnen. Wir wurden in der Liga zwei Mal hinter ihnen Zweiter, haben in beiden DFB-Pokalwettbewerben in direkten Spielen ebenso gegen sie verloren wie in Wembley. Sportlich, das muss man konstatieren, sind wir zwar nicht weit von den Bayern entfernt, aber leider doch mittlerweile wieder hinter ihnen angesiedelt. Aber anstatt diese gar nicht schlimme Tatsache zu akzeptieren, suchen wir uns doch Felder, auf denen wir besser sein können als die Bayern. Dortmund ist anders. Mag man in München die sportliche Nummer eins sein, so ist man als Dortmunder doch irgendwie überlegen. Weil man mit mehr Herzblut bei der Mannschaft ist, weil man Leistung stärker akzeptiert – und mit Sicherheit gilt bei vielen Fans auch, dass wir unseren Verein stärker lieben als andere. Kein Meister der Herzen, aber ein Meister in Herzensdingen.
Allerdings vergisst man dabei gerne eins: die Beurteilung, ob man wirklich anders ist, hängt auch von der Definition des Normalzustandes ab. Wir haben unsere Mannschaft beklatscht, weil sie gegen Bayern zwar nicht ihr bestes Spiel diese Saison gezeigt, aber den amtierenden Champions-League Sieger mit aufopferndem Kampf in die Verlängerung gezwungen hat. Das haben wir selbstredend auch schon in Wembley gemacht. Ja natürlich, die Mannschaft hat es verdient und es war wirklich für den Großteil das Normalste der Welt, Respekt für die Leistung zu zollen und nicht einfach wütend ob der vergebenen Titelchance wortlos den Block zu verlassen. Genau so haben aber auch die Fans des VfB Stuttgarts letztes Jahr ihre Mannschaft nach dem verlorenen Pokalfinale gefeiert. Und wer zweifelt daran, dass sich die Fans aus GE, aus Hamburg, aus Gladbach oder selbst aus Leverkusen in der gleichen Situation nicht genau so respektvoll und anerkennend verhalten hätten?
Oder mal andersrum provokant gefragt: Wenn bei gleichem Spielverlauf unser Gegner Kaiserslautern gewesen wäre, wäre unsere Anerkennung der Leistung deutlich sparsamer ausgefallen, oder wäre die Mannschaft mit gleicher Intensität bei der Ehrenrunde gefeiert worden? Das wäre nämlich wirklich anders gewesen. Wenn ich an die Stimmung in den Heimspielen gegen Augsburg und Berlin denke, dann möchte ich auf die schönere, andere Variante kein Geld setzen.
Anders sein, das ist vor allem eine Frage des Standpunktes. Und diesen Standpunkt teilen wir uns in vielen Bereichen mit allen anderen Vereinen. Anders, das ist eigentlich nur ein Verein: der FC Bayern München. Die Fans sind gänzlich anders sozialisiert und leben in ständiger Erwartung neuer Titel. Dass sie ihre Mannschaft nach dem Pokalsieg nicht ausgiebig gefeiert haben, mag nur dann wirklich verwundern, wenn man ausblendet, dass es eben der fünfte Titel innerhalb von zwei Jahren und das zehnte Double überhaupt war. Wir werden, und das ist als positive Hoffnung gemeint, vermutlich nie in eine vergleichbare Situation kommen.
Richtigerweise müsste es wohl heißen: Wir sind wie alle anderen.
Das klingt zugegebenermaßen viel weniger romantisch und heimelig als „Wir sind anders." Es nimmt einem das mitklingende Gefühl, auch ohne (oder zumindest mit nicht übermäßig vielen) Titel doch eigentlich etwas Besonderes und Besseres zu sein. Wir sind normal – und das ist gut so. Wir sind nicht besser und nicht schlechter als Fans, die Samstag für Samstag in anderen Farben zum Stadion pilgern. Wir müssen nicht zwanghaft anders sein, damit wir etwas haben, um uns überlegen und besonders zu fühlen. Und als kleiner Exkurs: wir müssen auch nicht anders sein, damit Andersartigkeit und Besonderheit marketingmäßig in klingende Münze übersetzt werden kann. Wenn wir uns für die Zukunft diese Normalität bewahren, dann haben wir eigentlich schon viel gewonnen.