Stimmung auf dem Tiefpunkt: Rücksichtslos und asozial?
Nach Internetforen und Fanblöcken hat die Stimmungsdiskussion nun auch die Mannschaft erreicht: Gleich mehrere Spieler monierten nach dem Rückspiel gegen St. Petersburg die Atmosphäre auf den Rängen, die nicht gerade für Esprit auf dem Platz gesorgt habe. Pflichtschuldig sparten Sebastian Kehl, Nuri Sahin und Kevin Großkreutz die Fans auf Südtribüne in ihrer Kritik aus, weil diese die Mannschaft immer nach vorne peitschten und große Strapazen auf sich nähmen – diesen Fans die Meinung über TV-Kameras frei Haus zu liefern, wäre wohl kaum eine gute Idee gewesen. Dabei wird gerade in den Stimmungsblöcken seit Wochen über maue Stimmung und Probleme geklagt.
Wurde man vor einigen Jahren gefragt, wie sich die Stimmung der BVB-Fans beschreiben lasse, konnte man sich blind auf eine Regel verlassen: „Die Südtribüne schwankt zwischen Welt- und Kreisklasse, auswärts ist Dortmund eine Macht.“ Heute müsste man fast sagen: „Die Südtribüne ist ein Schatten ihrer selbst, auswärts ist Dortmund noch ganz okay.“
Für die einen ist es die Schuld der Eventfans, die kaum einen Spieler kennen und vor allem daran interessiert sind, möglichst viele Tore auf wackligen Handyfilmchen festzuhalten: „Kuck mal, ich war da!“ lautet ihre Botschaft. Zwar fesseln ihre Videos und Geschichten kaum mehr als eine Partie Mau-Mau, doch können sie sicher sein, einige Augenblicke als cool zu gelten. Vielleicht fragt sogar ein Kollege, ob man seine „Beziehungen“ nutzen könnte, um „ein signiertes Trikot oder so was“ für die Schultombola des Sohnemanns aufzutreiben. Man kennt nicht einmal die Klofrau, aber – Jackpot! – man wird für einen intimen Kenner der Szene gehalten. Mit ein bisschen Glück kann man der Star beim sommerlichen WM-Kicktipp werden, selbst wenn man im ahnungslosen Kollegenkreis nur Platz 27 von 34 erreicht – schließlich hat man nur auf hoffnungslose Außenseiter gesetzt, weil man nicht so profan wie jeder andere auf einen Sieg Deutschlands/Spaniens/Brasiliens/Italiens/etc. setzen wollte, damit aber voll in die Scheiße gegriffen hat so große Sympathien für die Kleinen im Sport hegt und es wichtigere Dinge gibt, als zu gewinnen.
Ja, es gibt diese Menschen im Westfalenstadion und ja, sie sind selten Garanten einer stimmungsvollen Tribüne. Vor fünf bis zehn Jahren waren sie einige Hartgesottene (vielleicht auf der Suche nach Mitleidssex mit der scharfen Kommilitonin, weil man so tough und leidenschaftlich bei der Sache war), heute sind es ganze Heerscharen. Doch um sie soll es an dieser Stelle gar nicht weiter gehen – schließlich dürften in einem Tollhaus Westfalenstadion selbst 20.000 Touristen nicht großartig stören. Stattdessen wollen wir uns einer anderen Gruppe Fans widmen, deren Auftreten von zunehmend mehr Stadionbesuchern als stimmungsfeindliches Ärgernis angesehen wird: den Fahnenschwenkern. Es folgt eine willkürliche Sammlung von Einzelfällen, versehen mit Stimmen aktiver Fans, die uns in den letzten Tagen im Stadion bzw. per E-Mail erreichten.
25. Mai 2013, Borussia Dortmund misst sich im Londoner Wembley Stadion mit dem FC Bayern. Das größte Spiel der Vereinsgeschichte, weil es nicht mit Unsummen nicht vorhandenen Gelds erkauft, sondern von einer sympathischen und leidenschaftlich kämpfenden Mannschaft im Husarenritt erreicht wurde. Ein peinliches Vorprogramm erzürnt die Gemüter der BVB-Fans, sie wenden sich kollektiv vom Spielfeld ab. Dann ertönt der Pfiff des Schiedsrichters und wir sehen – nichts. Ein Experte schafft es, fast die gesamte erste Halbzeit einen Doppelhalter in die Höhe zu strecken: „Sektion Stadionverbot“. Eine nette Geste, auch an diejenigen zu erinnern, die nicht dabei sein können. Und hochgradig unfair gegenüber all denjenigen, die dahinter stehen und vom größten aller Spiele nichts mitbekommen, während der Verursacher selbst perfekte Sicht auf den Rasen hat. Lautstarke Kommentare und Beschimpfungen (nicht zuletzt aus der ultraorientierten Fanszene) sorgen dafür, dass ihm der Doppelhalter zu Beginn der zweiten Halbzeit abgenommen wird. Nun haben auch die anderen Fans Sicht auf den Rasen, bis er sich einen neuen Doppelhalter schnappt und diesen bis zum Spielende in die Höhe streckt. Von 90 Minuten Champions League Finale im Stadion keine Viertelstunde zu sehen, löst Wut aus. Dass die Stimmung nicht darunter leidet, ist der Bedeutung des Spiels geschuldet.
Ein Fan berichtet: „Ich war sauer und ärgere mich bis heute. Ich sehe es nicht ein, mir durchgehend eine Fahne vors Gesicht halten und mich dann anmaulen zu lassen, mehr zur Stimmung beizutragen. In Neapel habe ich mich deshalb aus dem Mob ferngehalten und im Block nach oben gestellt – mitsingen wollte ich da nicht, aber ich konnte das Spiel sehen. Für alles andere wäre mir die Fahrt zu teuer gewesen.“
1. September 2013, Borussia Dortmund gewinnt 2:1 bei Eintracht Frankfurt, das erste gute Spiel von Henrikh Mkhitaryan. Auf der linken Seite des Gästeblocks ist vom Spiel nichts zu sehen. 45 Minuten blickt man auf die Fahnen der Jubos, während sich der Vorsänger die Seele aus dem Leib schreit und überhaupt nicht nachvollziehen kann, warum in diesem Bereich kaum jemand in die Gesänge einsteigen will. Dass selbst einige Allesfahrer nicht mitsingen, weil sie sich über die versperrte Sicht ärgern und mit den vor ihnen stehenden Fahnenschwenkern diskutieren, wird nicht als Problem erkannt. Zur Halbzeit erfolgt ein Platzwechsel zu The Unity – auch dort werden Fahnen und Doppelhalter eingesetzt, allerdings nur phasenweise. Während von der linken Seite weiterhin nicht viel kommt, ist die Stimmung hier recht ordentlich – und das Spielfeld ist bis auf einige Minuten gut zu sehen.
Ein Fan berichtet: „Es fällt auf, dass sich der Weg in die Fanszene ändert. Die Fahnenschwenker sind selten Leute, die als 12-jährige vollbehangen mit Schals von ihrem Vater ins Stadion mitgenommen und darüber zum Fan wurden. Gruppenfahnen oder Doppelhalter für die Sektion Stadionverbot sind ihnen oft wichtiger, als das eigentliche Spiel zu sehen. Das war früher nicht so.“ Ein anderer findet „das Verhalten rücksichtslos, denn auf andere Fans wird geschissen. Für sie gibt es die Gemeinschaft auf der Tribüne nur, wenn sie was verbockt haben oder andere als Unterstützer brauchen.“
25. Januar 2014, das erste Pflichtspiel nach der Winterpause. Nach schwungvollen Testspielen scheint der BVB seine vorweihnachtliche Schwächephase überwunden zu haben und voll durchstarten zu können. Die Südtribüne ist motiviert, doch bei einigen findet die Motivation ein schnelles Ende. Fünf große Schwenkfahnen sind im Dauereinsatz, die meisten davon zeigen Gruppenlogos oder nehmen Bezug auf Stadionverbote. Die dahinterstehenden Fans sind genervt und verlieren die Lust am Singen. Einer von ihnen ist so sauer, dass er auf seinem Smartphone die Sekunden stoppt, in denen er keine der drei großen Schwenkfahnen der Jubos vor dem Gesicht hat: Das erste Mal in der zehnten Minute, erlebt er insgesamt gerade einmal 12:42 Minuten störungsfreien Fußball. Er beschäftigt sich mehr mit den Fahnen und seinem Ärger darüber, als mit dem eigentlichen Spiel: „Ich kann keinen Bezug aufbauen, keine Emotionen, kann mich nicht über tolle Aktionen freuen oder über gegnerische Fouls aufregen, kann das nicht kanalisieren und stehe stummer und gelangweilter im Stadion, als ich es vor dem Fernseher jemals wäre.“ Dass kleine Schwenkfahnen und Doppelhalter sowie jegliches Material von The Unity, Desperados und ganz normalen Fanclubs noch dazu kämen, an seinem Stehplatz aber nicht besonders ins Gewicht fielen, ist ihm wichtig zu betonen.
15. Februar 2014, Borussia Dortmund empfängt Eintracht Frankfurt. Gegen schwache Hessen brennen die Schwarzgelben ein (kleines) Feuerwerk ab, doch auf mittlerer Höhe in Block 12 ist das nur zu erahnen. Doppelhalter und Fahnen sind im Dauereinsatz, selbst langjährige Stadiongänger verlieren zwischenzeitlich die Geduld. Als Robert Lewandowski in der 47. Minute zum Foulelfmeter antritt und nicht einmal in diesem Moment die Fahnen unten bleiben, herrscht Wut. Zum wiederholten Mal suchen die Fans das Gespräch mit den Fahnenschwenkern, doch bekommen sie stets den gleichen Satz zu hören – mal mehr und mal weniger freundlich formuliert: „Stell dich doch woanders hin“, „Hau ab“, „Verpiss dich“, „Was willst du hier?“, „Wer bist du überhaupt?“.
19. März 2014, Borussia Dortmund kann zum zweiten Mal in Folge das Viertelfinale der Champions League erreichen. Die Voraussetzungen sind bestens, selbst eine 2:0 Niederlage würde für die Runde der besten acht Mannschaften Europas ausreichen. Wie die Spieler nach Spielende feststellen, sollte dieser Tag ein Fest für jeden Fan sein. Doch auf der Südtribüne gärt es. Fans berichten von gezielter Sabotage der von den Vorsängern angestimmten Lieder. In der zweiten Halbzeit werden andere Lieder gesungen, Fans in Block Drölf klatschen gezielt gegen den Takt und sogar einige Trommler steigen kurzzeitig ein – bis die Trommeln ganz verstummen. Einige Fans schätzen die Stimmung als explosiv ein, nicht weit sei man von Becherwürfen und Handgemengen entfernt gewesen.
Ein Fan berichtet: „Die Situation ist einfach zum Kotzen, sehr viele Leute um uns herum sind nur noch frustriert. Und von unten wirst du doof angegrinst, dann wird erst recht durchgeschwenkt.“ Ein anderer: „Mir braucht keiner der Fahnenschwenker mit ‚Fankultur‘ oder ‚unsere Art zu leben‘ kommen – das ist rücksichtslose und asoziale Scheiße, die in meinem direkten Umfeld dazu geführt hat, dass lange gewachsene Strukturen zerbrachen und sich (sangesfreudige) Leute, die seit Jahren zusammen an einem Platz standen, über den Block versprengten. Es entwickelt sich eine Abneigung, die auch dazu führt, dass aus purem Trotz nicht mehr mitgesungen wird.“
Alle Erlebnisberichte haben gemeinsam, dass ihre Urheber nicht zu denjenigen Fans gehören, die kein Interesse an einer lauten und bunten Tribüne haben. Sie haben kein Problem damit, gelegentlich auf eine Fahne zu blicken und nicht jeden falschen Einwurf auf Höhe der Mittellinie mitzubekommen. Sie sind seit Jahren und Jahrzehnten dabei, bei Heimspielen wie Auswärtsspielen, national wie international. Sie halten nicht mit ihrer Meinung hinter dem Berg, um später anonym im Internet zu pöbeln, sondern suchen im Stadion den Kontakt zu denjenigen Leuten, deren Verhalten sie stört. Sie waren in Bielefeld wie auch in Wembley, erinnern sich gut an den verzweifelten Delron Buckley im Kampf gegen sich selbst und an den Ort, an dem sie die Molsiris-Entscheidung im Radio verfolgten.
Sie sind keine Laufkundschaft, sondern langjährige und engagierte Fans, und sie sind sauer, weil sie sich nicht ernst- und häufig nicht einmal wahrgenommen fühlen. Die mittelmäßige Stimmung, so scheint es ihnen, ist nicht nur der Sattheit und dem Auftreten von Erfolgs- und Eventjunkies sondern auch dem Ärger über das Verhalten der eigenen Leute geschuldet. Während die Vorsänger auf dem Podest stehen und sich redlich bemühen die träge Masse wachzurütteln, bleiben sie nur wenige Meter dahinter stumm und versagen die Gefolgschaft. Im schlimmsten Fall, so geschehen am Mittwochabend gegen St. Petersburg, lehnen sie sich auf und arbeiten gegen die Vorsänger.
Der Dialog in den Stimmungsblöcken ist ins Stocken geraten, wäre aber wichtiger denn je. Es scheint notwendig, gerade jungen Fahnenschwenkern näher zu bringen, welchen Stellenwert sie auf einer Tribüne haben, auf der sie neben so vielen altgedienten und noch immer aktiven Fans stehen dürfen. Auch wird es kaum möglich sein die Fans in Block Drölf wieder verstärkt zum Mitsingen zu bewegen, so lange ihnen einzelne, aber hartnäckige Fahnenschwenker mit Ablehnung begegnen. Denn die Probleme blieben selbst dann bestehen, wenn sich die genervten Fans einen neuen Platz auf der Tribüne suchen sollten: Andere würden ihre Plätze einnehmen, wahrscheinlich weniger Geduld aufbringen und ihren Unmut innerhalb kürzester Zeit äußern. Die Alternative einer klaffenden Lücke hinter den Fahnenschwenkern scheint komplett unattraktiv – immerhin sollen die Fahnen gerade das Bild einer lebendigen Tribüne transportieren und nicht dafür sorgen, dass diese zu einer stummen Betonwüste mutiert.
Letzten Endes könnte der Schlüssel zu einer besseren Stimmung und einer lebendigeren Südtribüne also auch in einem dosierten und weniger exzessiven Fahneneinsatz liegen: Die Fans haben das Singen nicht verlernt, so lange sie vom Spiel denn etwas mitbekommen. Ein guter Ansatz könnte der alte und früher erfolgreich gelebte Kompromiss sein, Fahnen und Doppelhalter bei Spielzügen und Torraumszenen unten zu halten. Schließlich müsste bei einer Nettospielzeit von selten mehr als 55-60 Minuten (also 30-35 Minuten ruhendem Ball) ausreichend Gelegenheit geboten sein, das Fahnenmaterial in einem fan-sozialen Miteinander einzusetzen.