Zum Abitur viel Glück
"Na, konnt´se denn schlafen gestern?" Die Worte meines Deutschlehrers beim Verteilen der Deutsch-Abiturprüfung wurden von einem schelmischen Grinsen begleitet. Wir verstanden uns sofort. Denn uns verbindet eine Affinität zum Ballspielverein. Aber jetzt war Mittwochmorgen. Jetzt war Abitur. Jetzt musste ich mich konzentrieren. Einen Ausflug in gedankliche zehn Stunden davor ließ ich mir trotzdem nicht nehmen.
Also ging ich nochmal alles durch. Begonnen hat alles mit der Terminierung des CL-Viertelfinals. Beim Studieren überflog ich den 3. April als Hinspiel, stieß aber auf den 9. April als Rückspieltermin. Mist! Heimspiel! Warum Mist? Weil ich am nächsten Tag die erste Abiturprüfung schreiben sollte. Ich fühlte mich besonnen genug zu sagen, dass es optimalere Bedingungen gibt, sich auf die Prüfung vorzubereiten, als bis 23 Uhr – geschweige denn bei einer möglichen Verlängerung – im Westfalenstadion zu weilen. So viel Wert war mir das Abitur dann doch. Also musste ich zähneknirschend auf einen Abend ohne hautnahe Begleitung des BVB vorbereiten. Da ich in einem Sky-losen Haushalt lebe, fragte ich bei meinem besten Kumpel nach. „Ne, sorry, bin selbst im Stadion“, lautete da die Antwort, die meine Gute-Laune-Skala nicht gerade in die Höhe schießen ließ. So musste ich einen Alternativ-Plan entwickeln. Und der hieß: einen Stream finden und Netradio anschalten. Gibt sicher schönere Wege, dieses verdammt wichtige Spiel des BVB zu begleiten, aber besser als nichts. Und so fand ich mich gegen halb neun vor dem PC ein und schaltete das Netradio ein. Vielen ging es ähnlich wie mir, was das Ganze etwas vereinfachte und die Suche nach einem Stream leicht machte. Wirklich aufgeregt war ich noch nicht. Ich hatte einfach das sechs Tage vorher stattfindende Hinspiel in Erinnerung, bei dem ich Malaga nicht als so stark empfunden hatte, dass ich ernsthaft an ein mögliches Ausscheiden dachte.
Das mit der Aufregung hatte sich dann um 20.41 Uhr gelegt, als diese unfassbar geile „Auf-den-Spuren-des-verlorenen-Henkelpotts“-Choreo über den Bildschirm flimmerte. Ich hatte wegen einer Choreographie noch nie wässrige Augen, aber diesmal war es so weit. Meine Abstinenz spielte dabei sicher auch eine Rolle. Ich hatte außergewöhnlich gutes Bild und unterlegt mit den herrlich subjektiven Netradio-Stimmen machte sich der Beginn des Spiels sogar ertragbar. Da passte mir das 0:1 nicht so recht in den Kram. Aber auch da zog ich einen Gedanken ans Ausscheiden immer noch nicht in Erwägung. Genug Zeit hatten wir schließlich noch. Und als ich das 1:1 sah, war ich umso zuversichtlicher.
Die 15 Minuten Halbzeit wurden dazu genutzt, um noch mal alles Wichtige für die Deutschklausur durchzugehen. Analyse? Check! Sprachuntersuchung? Check! Lektüren? Check, hatte ich alle drauf! Ich machte mir wenig Sorgen um die bevorstehende Prüfung, war gut vorbereitet, und deshalb hatte ich nur einen Wunsch: weiterkommen! Ich malte mir zugegebenermaßen aus, wie ich reagieren würde, wenn ich mit dem Gefühl des K.o. in die Klausur ginge. Wirklich Bock hatte ich da nicht drauf! Also gab es nur eine Möglichkeit. Die des Weiterkommens.
Wie es so ist, versagte der Stream in Halbzeit zwei und ich verließ mich einzig auf die Stimmen des Netradios. Und ich stand auch schon auf dem Stuhl, als mir die Chancen Reus´ und Götzes verbal geschildert wurden. Das durfte doch nicht wahr sein. Wahr sein durfte auch das nicht, was sich da acht Minuten vor dem Ende abspielte: 1:2. Was? Das war´s. Hundert Prozent. Das war´s. Und während sich Nobby und Co-Moderator über den Abseitstreffer aufregten, durchforstete ich frustriert die Seiten des Internets. BVB-Forum, Facebook… Alles Scheiße! Einen Eintrag im Forum las ich, der mir rückblickend aber als besonders prägnant erschien: „Jetzt werden Helden geboren“, postete ein User nach dem 1:2. Jajaja, watschte ich diese Worte innerlich ab. Liest man ja immer. Soll´s auch schon mal gegeben haben. ´99 zum Beispiel, als Manchester das Finale in den letzten Sekunden noch drehte. Aber wir? Nee.
Ich hatte mit allen Hoffnungen abgeschlossen. Und war somit der personifizierte „Zu-früh-aus-dem-Stadion-Geher“ Zuhause vor dem PC-Bildschirm – mit dem Vorteil, dennoch alles weiterhin zu hören. Und so hörte ich auch das Anfang vom Wunder. „Subotic, Schieber. Nachschuss. Reus. Tooor. Tor“, lauteten die Worte im Netradio. Hoffnung keimte auf. Und ich meine mich erinnern zu können, wie ich ein kleines Stoßgebet nach oben aussprach. Damit war ich zu diesem Zeitpunkt sicher nicht der einzige. Und während ich noch meine Gedanken vor mir hin murmelte, wurde es richtig hitzig. Die Atmosphäre des Westfalenstadions übertrug sich auf mich. Ich sang nun mit. Hörte die Aufschreie. Foul? Nein. Einwurf Schmelzer auf Lewandowski. „Lewandowski jetzt mit der Flanke in die Mitte. Die kommt nicht schlecht. Schieber, Reus – Reus in die Mitte, nun mach ihn rein.“ Die letzten Worte vor dem Sturm. Auf einmal hörte ich Tooor, Tooor, Tooor, Tooor. Ich reagierte nicht. Zu groß war die Angst vor einem irregulären Treffer. Abseits, Foul. All das hätte jetzt noch gepasst, ich konnte das Ganze ja auch nicht sehen. Ich bemerkte aber, wie der Kommentator immer wieder Toooor schrie. Immer wieder. Auf einmal packte es mich. Es sind wohl die Reflexe eines Fußballfans, die sich über Jahre gebildet haben, denn auf einmal riss ich meine Beine nach oben. Ungeachtet der Tatsache, dass ich sie mit voller Wucht gegen die Holzplatte des Schreibtisch stieß. Scheiß egal. Ich war nicht mehr ich selbst, riss mich von meinem Stuhl los. Und nun begann der Run durchs Haus, von dem ich meine, dass ihn nicht mal Jürgen Klopp besser hinbekommen hätte. Jedes Zimmer wurde abgeklappert. Ich haute überall gegen. Gegen die Wand. Gegen Tische. Begleitet wurde dies durch einen ohrenbetäubenden „JAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA“-Schrei. Es dauerte einige Sekunden, bis ich mich gesammelt hatte. Realisieren konnte ich das alles nicht. Und es stand ja noch das Zittern bis zum Abpfiff bevor. Als dieser erfolgte, saß ich regungslos vor dem PC. Das war dann wohl die Ruhe nach dem Sturm.
Ich konnte nicht mehr. Das sind Augenblicke, von denen man zehn Jahre träumt und dann kommen sie zu dem Zeitpunkt, bei dem man am wenigsten mit ihnen rechnet. Facebook explodierte. Borussia Dortmund überall, wo man hinsah. Das Netradio machte Überstunden und ließ mich an der Ehrenrunde im Westfalenstadion teilnehmen. Der Abend begann mit feuchten Augen, und hörte mit selbigen auf …
„Natürlich nicht“, antwortete ich meinem Lehrer und wachte aus meiner kleinen Träumerei auf, die eigentlich keine war. „Da bin ich extra Zuhause geblieben und dann sowas – kann man ja nicht mit rechnen.“ Mit dem Grinsen wandte sich mein Lehrer ab und ich meinen Aufgaben zu. Mit müden Augen. Diese erblickten den Themenvorschlag mit den Lektüren „Buddenbrooks“ und „Tauben im Gras“ – genau die, die ich mir gewünscht hatte. Das Glück hatte mich nicht verlassen. Auch nicht über die 15 Stunden zwischen Santana und Abitur.
geschrieben von Leon