Das Selbstbewusstsein der Fans
12 Minuten und 12 Sekunden Stille. In einem Stadion, in dem sich 80.100 Zuschauer aufhalten. Angriffe, die mit dezentem Applaus bedacht werden. Beeindruckend und bedrückend zugleich. Ein durchweg surreales Gefühl, das man mit Sicherheit nicht nur in Dortmund, sondern in allen Stadien der ersten und zweiten Liga in dieser englischen Woche hatte. Einerseits der innige Wunsch, dass so etwas nie Alltag wird, andererseits aber eine bombastisch-positive Überraschung, dass der Protest gegen die von Verband und Politik angedachten Maßnahmen von so einer breiten Masse getragen werden. Quer durch alle Altersschichten Verständnis und Unterstützung. Der vorläufige Höhepunkt einer Fanentwicklung, die in den letzten Jahren mehr und mehr zum tragen kommt. Der Fan emanzipiert sich. Er entwickelt eigene Wünsche, eigene Interessen – und er traut sich, diese Interessen zu vertreten.
In Hamburg stellt sich ein Mitglied aus der Ultras-Gruppe zur Wahl in den Vorstand. Fans organisieren sich in Unsere Kurve und ProFans. Viele Vereine haben mittlerweile eigene Fanabteilungen. Sie starten Kampagnen wie „Kein Zwanni", „Pyrotechnik legalisieren", oder eben „Ohne Stimme 12:12 keine Stimmung". Football without politics? Mitnichten. Nie war Fußball politischer als in diesen Tagen. Und es ist nicht „nur" Fanpolitik. Wenn sich Fans für gerechte Ticketpreise einsetzen, dann ist das Sozialpolitik. Der Kampf gegen völlig überzogene Sicherheitsmaßnahmen ist Innenpolitik. Eine Entwicklung, die fast zwangsläufig ist, wenn man sich anschaut, wie sich die Fanszenen in den letzten Jahren entwickelt haben. Fußball ist ein Massenereignis und auf den Tribünen tummeln sich scharenweise Leute, die es nicht nur gewohnt, sondern auch fähig sind, ihre eigenen Interessen zu vertreten und sich ihre eigene Meinung zu bilden. Es gibt sogar eine IG Fananwälte. Das sind keine Anwälte, die „auch Fußballfans" vertreten, sondern Anwälte, die bei den Spielen direkt neben uns stehen.
Für „die Fans" allgemein ein Segen, für Vereine, Verbände und auch die Politik eine Begebenheit, mit der sie lernen werden müssen, umzugehen. Die Zeiten sind endgültig vorbei, in denen man Vereinsvorsitze im Handstreich damit erobern konnte, dass man darüber schwadronierte, welche Mannschaft man früher noch barfuß besiegen konnte. Vorbei die Zeiten, in denen man Misswirtschaft einfach damit erklären konnte, dass man dem Fan doch etwas bieten müsse. Wie schwer man sich damit tut, zeigt der Umstand, dass der Fan in der Darstellung von Vereinsseite immer noch häufig als etwas treudoofer Schlachtenbummler mit mehr Sanges- als Geisteskraft herüberkommt. Es zeigt sich aber auch darin, dass seitens der Polizei mit der ZIS Statistiken präsentiert werden, die teilweise arg halbseidene Zahlen aufzeigt. Fans können solche Statistiken lesen und interpretieren. Sie beschäftigen sich mit Bilanzen. Kurz gesagt: der Horizont reicht mittlerweile viel weiter als nur bis zum nächsten Spieltag. Das engt natürlich Macht und Handlungsspielräume ein und man gibt diese Territorien nur sehr zögerlich preis. Das sieht man auch daran, mit welcher Selbstverständlichkeit Fans und Fanvertreter bei der ersten Planung des Sicherheitskonzeptes übergangen wurden und später ein ernsthafter Dialog erst langsam auf breiten Druck aufgenommen wurde. Der Fußball verändert sich. Häufig nicht zum Positiven, aber die Entwicklung der letzten Jahre in diesem Punkt ist ein umwälzender Glücksfall.
Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die Kampagnen „Pyrotechnik legalisieren – Emotionen respektieren" und eben 12:12 zu werfen. Bemerkenswert ist hierbei, dass sich Ultrasgruppen quer durch die Republik und durch alle Ligen für eine Sache engagieren. Man muss mit den Inhalten nicht übereinstimmen, aber doch zugestehen, dass man sich hier vorbildlich, ernsthaft und solidarisch für seine Interessen eingesetzt. Auch Gruppen, die sich gelinde gesagt nicht gut verstehen, haben, vielleicht nicht unmittelbar, aber im Rahmen der Aktionen miteinander gearbeitet. Und vielleicht liegt hier auch eine große Chance für die Zukunft. Fußball wird nie eine Kuschelveranstaltung und soll es auch nicht. Zwischen den verschiedenen Gruppen ist in der Vergangenheit einiges vorgefallen, das nicht so einfach weggewischt werden kann. Aber vielleicht steigt der Respekt voreinander und die Erkenntnis, dass man mit dauerhafter Konfrontation langfristig nichts gewinnen kann. Letztendlich würden wir alle davon profitieren.
Es gibt viele Aspekte der Ultraskultur, die man kritisch sehen kann und manche, die man kritisch sehen muss. Manch einer stört sich an ausufernden Endlosgesängen, vielen ist die Beharrlichkeit in Sachen Pyrotechnik ein Dorn im Auge. Und man muss feststellen, dass zumindest in Teilen auch die Bereitschaft zur Gewalt vorhanden ist. Was man der Ultraszene jedoch uneingeschränkt zugestehen muss ist, dass sie das Themengebiet der Fanpolitik für sich besetzt hat. Sie sind es, die Probleme und Kritik in den Stadien artikulieren und zur Sprache bringen. Sie sind unbequem und wollen es auch sein. Die Gruppen schaffen es aufgrund ihres Engagements und auch ihrer Organisation, Meinungen zu kanalisieren, wie es all den recht eigenständigen und nur lose miteinander vernetzten Fanclubs kaum möglich ist. Wer sich ernsthaft die Frage stellt, wie der Fußball ohne die Ultrakultur aussehen mag, der wird vielleicht, je nach Sichtweise, zuerst nur an fehlende Megafone und schwarze Kapuzenpullis denken. Denkt man weiter, kommen einem vielleicht irgendwann Bilder aus den englischen Stadien in den Sinn, wo sich der Ultrasgedanke nie festgesetzt hat. Auch mit der Folge, dass es gegen ausufernde Kommerzialisierung des Sports, Domestizierung der Fans und Ausgrenzung unterer Einkommensgruppen keinen echten, organisierten Widerstand gegeben hat. Das darf man bei aller sonstigen Kritik nicht vergessen. Und für die Szenen sollte es ein Ansporn sein, diese Themen weiterhin positiv zu besetzen.
Fans sind kein Sicherheitsrisiko, keine Melkkühne und kein leicht beeinflussbares Klatsch- und/oder Stimmvolk. Wir lieben zwar unsere Vereine und wollen unsere Mannschaften unterstützen. Im Gegenzug erwarten wir jedoch auch, mit unseren Anliegen und Wünschen ernst genommen zu werden. Wir wollen den Sport in allen Facetten, die uns betreffen, aktiv mitgestalten und als Dialogpartner auf Augenhöhe wahrgenommen werden. Der gestrige Spieltag war ein wunderbares und eindrucksvolles Zeichen dafür. Dank an allen, die sich engagieren und für Fanrechte einstehen. Mit ihrer Stimme – für die Stimmung.