dembowski schreibt wolfgang stark
Je länger Dembowski über Wolfgang Stark nachdachte, umso unwahrscheinlicher wurde es, dass er ihn bei einem direkten Aufeinandertreffen nicht vor die Tür bitten würde. Seit Samstag waren schon ein paar Tage vergangen, aber die Arbeit staute sich weiterhin auf dem Schreibtisch in der Erdgeschosswohnung. Er hatte die Rollos runtergezogen und wollte sich auf keinen anderen Auftrag einlassen, sogar die Ermittlungen in der Hoppenheim-Sache stockten. Nach Redermanns Banner-Coup waren zwar vereinzelt Anfragen eingetroffen, doch niemand konnte sich wirklich zu weiteren Anstrengungen motivieren. Immer wieder kreisten die Gedanken um Wolfgang Stark.
„Wie kann der gute Mann nachts nur schlafen?“ hatte Redermann am späten Montag geschrieben. Diese Mail allein bescherte Dembowski eine weitere schlaflose Nacht. Er saß an seinem Schreibtisch und klickte sich durch die alten Spielberichte. Bald hatte er sich sorgfältig alle Fehlentscheidungen in einer Excel-Tabelle notiert, zur Belohnung schlenderte der Ermittler in Richtung Plattensammlung. Er zog „Green River“ von CCR raus, legte den Arm des Plattenspielers auf „Bad Moon Rising“ und gönnte sich erst einmal einen Drink. Mit Drink und Ernte in der Hand konnte Dembowski die klarsten Gedanken fassen. Es ging ihm nicht um den Rausch, vielmehr konnte er seine Gedanken so in klare Bahnen lenken. Doch so sehr er sich in der Erdgeschosswohnung vor dem Plattenspieler stehend auch anstrengte, immer wieder schoß ihm Wolfgang Stark durch den Kopf. Er nahm wieder vor dem Monitor Platz, öffnete Redermanns Mail und antwortete: „Arroganter Fatzke! Redermann, der Mann kann nachts nicht schlafen, weil er die Regeln studiert und dabei vor dem Spiegel steht und schaut, wie es aussieht, wenn er einen Freistoß entweder nicht freigibt oder nicht freigeben muss. Oder wie er sich zu bewegen hat, wenn er einem Spieler eine gelbe Karte gibt, sobald dieser sich erdreistet, einen Platzverweis für einen gegnerischen Spieler in Frage zu stellen. Natürlich alles durch das Regelwerk begründet. Da sichert sich der Kollege schon ab. Piotr meint, Stark sei kein Konstrukteur und vermutet, dass der Landshuter Sparkassenangestellte wohl einer Gegenbewegung angehören muss. Er bitte uns um Gegenmaßnahmen. Sofortige Gegenmaßnahmen. Erwarte Dich um 9 Uhr zum Frühschoppen!“
Mittlerweile hatte die Nacht sich bereits gen Morgen gekrümmt, durch die geschlossenen Rollos drangen die Geräusche des morgendlichen Lieferverkehrs. Erst würde der Bäcker seinen Job aufnehmen und bald schon die ersten Linienbusse die Ruhe mit ihren Motoren stören. Die Autos würden sich stauen, die Autofahrer durchdrehen, die Linienbusfahrer aussteigen und direkt vor dem Haus den Bäcker in eine Schlägerei verwickeln. Irgendwann dann würde es selbst Wentraud, die sich für den morgendlichen Ansturm bereit macht, reichen. Sie würde ihre Stimme erheben und die Straße im Chaos versinken. Dembowski graute es vor diesem unabwendbaren Szenario, er hatte es bereits zu oft erlebt. „Zu viele schlaflose Nächte“, dachte er, doch so sehr er sich auch bemühte, entweder regte er sich über den Lärm auf, oder er verfluchte Wolfgang Stark. Auf „Green River“ folgte „Doolittle“ und darauf „There Is An Ocean That Divides And With My Longing I Can Chargen It With A Voltage That’s So Violent To Cross It Could Mean Death“ von seinem liebsten Bartträger Scott Matthew. Aber selbst Matthew, der ihn dereinst so begeisterte und ihn meist in andere Welten hatte entführen können, war in dieser Nacht machtlos. Noch eine Ernte und zur Abwechslung, es wurde langsam hell, einen Kaffee und ein Toast. Ganz langsam schritt der Zeiger voran. Der Lieferverkehr ebbte ab und die normalen Geräusche drangen gedämpft in die Erdgeschosswohnung.
Pünktlich um 9 Uhr traf Redermann ein. Er hatte an alles gedacht. Zum Kaffee brachte er frische italienische Salami, frischen Schinken aus Spanien und den guten stinkenden Käse aus der Schweiz mit. Dembowski hatte sich vorher bereits um Brötchen gekümmert. Das war der Vorteil an seiner sonst eher bescheidenen Wohnlage. Irgendwann hatte er ein Abkommen mit dem Bäcker getroffen, fortan waren nach durchmachten Nächten frische Brötchen garantiert. Ein kurzer Anruf genügte. Sie setzten sich an den gedeckten Tisch und schwiegen sich beim Frühstück an, doch ihre Blicke waren vor Hass entstellt.
„Verdammte Scheiße“, Redermann wischte die letzten Krümel vom Tisch und sprang auf „wir sitzen hier, frühstücken in aller Ruhe und in all der Zeit sitzt dieser Typ irgendwo in Bayern rum und grinst sich einen. Wir müssen was unternehmen!“ „Deswegen bist Du doch hier, Redermann. Oder dachtest Du, wir würden jetzt einfach frühstücken und trinken und schimpfen? Hast Du meine Mail überhaupt gelesen?“ „Ja“, grummelte Redermann, „klar habe ich die gelesen, aber Du machst nun überhaupt keine Anstalten, Schwung in die Sache zu bringen. Ehrlich: Ich habe es über, Deinem Verfall beizuwohnen. Wo ist der Dembowski, den ich in den Masuren kennengelernt habe?“ „Willst Du mir den Kopf waschen, oder willst Du etwas unternehmen? Diese Andeutungen, diese vagen Behauptungen sind mir wirklich zuwider!“ Dembowski hatte Mühe, seine Emotionen einigermaßen zurückzufahren. Seitdem ihm die Konstrukteure Redermann an die Seite gestellt hatten, ließ er es ein wenig ruhiger angehen. Das aber hatte er sich nach dem letzten aufwühlenden Halbjahr durchaus verdient. Doch in der Stark-Angelegenheit, soviel war Dembowski klar, würde er das Heft wieder in die Hand nehmen, sich aber gerne auf Redermanns Rat einlassen.
„Schau hier!“, der Ermittler öffnete die Excel-Tabelle und zeigte auf die erstaunliche Liste der Stark-Verfehlungen. „Das sind nur die, die mir bei meiner flüchtigen Recherche aufgefallen sind. Und wenn ich ganz ehrlich bin, reichen mir bereits Hannover 2008, Hoppenheim 2010 und Leverkusen 2011, um diesen abscheulichen Typen nie wieder in einem Schiedsrichteroutfit sehen zu wollen. An dieser Tatsache aber werden wir nichts ändern können, wir müssen daher andere Wege wählen. Wie ich bereits in meiner Mail erwähnte, vermutet Piotr da weit mehr hinter, als wir uns jetzt gerade vorstellen können. Scheinbar gehört Stark uns bisher unbekannten Konstrukteur-Gegenspielern an. Piotr hat mir mehrfach glaubhaft versichert, dass er am Samstag, aber auch in der Vergangenheit, keinerlei Einfluß auf die Ansetzung hatte. Immer wieder betonte er in den Gesprächen mit mir seine Hilflosigkeit. „Da sind höhere Mächte am Werk“, hatte er wiederholt und, Du kennst Piotr, sich in minutenlangen Monologen an dieser Tatsache festgebissen. Mir sind da die Hände gebunden, Dembowski, hat er zu mir gesagt und sich dann wieder und wieder entschuldigt. Redermann, wir setzen und jetzt einfach hin und schreiben an Stark. Es wird nicht helfen. Aber es wird unser Gewissen erleichtern. Vielleicht können wir uns danach anderen Dingen zuwenden? Vielleicht, ich glaube es nicht!“
„Mächtige Worte, Dembwowski. Darauf erst einmal einen Schnaps“, Redermann bewegte sich in aller Ruhe zum Kühlschrank, bückte sich, nahm die Flasche heraus, stellte sie auf den immer noch gedeckten Frühstücktisch, holte zwei Gläser aus dem Schrank, goss in aller Ruhe ein, durchstöberte das Regal, zog eine Soul-Jazz-Compilation heraus, legte sie auf, setzte sich in aller Ruhe zurück in den Lehnstuhl, hob das Schnapsglas, stieß mit Dembowski an und sagte: „Auf den Brief, lang leben die Konstrukteure!“ So machten sich beide an die Arbeit, die Worte flossen aus ihren Händen über die Tastatur in den Computer. Es gab keine Probleme, die richtigen Worte zu finden, binnen kürzester Zeit hatten sie den Brief runtergeschrieben. Sie feilten und rundeten an einigen Stellen, schauten sich an und dachten: „verdammt guter Job, lang leben die Konstrukteure, lang lebe Dembowski, lang lebe Redermann und“, sie hatten ihn nicht vergessen, „lang lebe der Praktikant Amok!“ Bevor sie den Brief an Stark, die DFL und an ihren Presseverteiler schickten, las Dembowski ihn noch einmal genüsslich vor:
„Werter Sportskamerad Wolfgang Stark
Man kann Ihnen vieles vorwerfen, Parteilichkeit jedoch nicht. Sie halten sich an dem Regelwerk, dem weltweiten Regelwerk, wie ihr hochgeschätzter Kollege Dr. Markus Merk am Samstag anmerkte, fest und entscheiden so, wie Sie es für sinnvoll halten. Auf Ihre Assistenten lassen Sie nichts kommen. Muss sich einer aus ihrem Gespann die Schuhe binden, verzichten Sie gerne auch einmal auf die Ausführung eines Freistoßes, und hat einer ihrer Assistenten brauchbare Tipps für den weiteren Spielverlauf, so freuen Sie sich wie ein König darüber, dass dieser diese hochwertigen Tipps brandheiß an die entsprechenden Trainer und Auswechselspieler in den Coachingzonen weitergibt. Beeindruckend auch Ihre Regelkenntnis in Sachen Unsportlichkeit. Mit größter Freude erinnern wir uns an zwei Situationen aus dem Samstagsspiel Bayer Leverkusen gegen Borussia Dortmund. Die Ungeheuerlichkeit Renato Augustos, der nicht verstehen wollte, dass sie einen Konter zugunsten eines Pausenpfiffs unterbanden und somit den erschöpften Spielern die wohlverdiente Pause gönnten, mit Gelb zu bestrafen, war eine vorzügliche Entscheidung.
Erwähnenswert auch ihre Konsequenz in der Wahl der persönlichen Strafen gegen die Spieler Mario Götze und Hanno Balitsch. Erdreistete sich Erstgenannter sein Bein mit dem Führungsbein des Zweitgenannten mitzuziehen und somit einer möglichen Verletzung aus dem Weg zu gehen, so war dies nichts gegen die bodenlose Unverschämtheit Balitschs, die dem Fass den Boden ausschlug. Die für oben genanntes Vergehen und die abscheuliche, mit ihren Adleraugen feinsäuberlich registrierte Spuckattacke des Jungnationalspielers gegen den wehrlosen Balitsch ausgesprochen rote Karte zu hinterfragen, geht, entschuldigen Sie die platte Wortwahl, natürlich auf keine Kuhhaut. Wo würden wir nur hinkommen, wenn Gegenspieler sich auf dem Platz gegenseitig vor dem Schiedsrichter schützen wollten? Wir sind hier schließlich nicht vor dem Stadion und Spieler sind keine Ultras und Schiedsrichter sind in den seltensten Fällen Polizisten.
Gäbe es zwei Schiedsrichtergewerkschaften, sie würden der kleineren Gewerkschaft vorstehen und mit stets korrekten und lebensnahen Vorschlägen konstruktiv zum gemeinsamen Miteinander auf dem Platz beitragen. Das Gesetz, werter Sportskamerad Stark, ist auf Ihrer Seite und manchmal, wenn Sie es ein wenig anders auslegen wollen, dann machen Sie es immer, und das beeindruckt uns massiv, im Sinne des Fußballsports. Überschreitet der Ball einmal die Torlinie und entscheidet das Spiel dadurch frühzeitig, geben Sie dem Spiel eine Chance und bieten uns durch die Rücknahme des Tors die Gelegenheit, das Spiel bis zu Ende auszukosten. Läuft ein Spieler bei der Ausführung eines Elfmeters zu früh in den Strafraum, drücken Sie einmal ein Auge zu und an einem anderen Tag ficht Sie das nicht an, denn Regelwerk ist Regelwerk bleibt Regelwerk
Werter Sportskamerad Wolfang Stark, wir, die Konstrukteure, danken Ihnen für Ihren vorbildlichen Einsatz und Ihre stets zurückhaltenden Gesten.
Denken Sie stets dran: Unsere Vergangenheit ist Ihre Zukunft ist unsere Gegenwart!
Ergebene Grüße
Ihre Konstrukteure“
dembowski, 30.08.2011
dembowski ermittelt täglich hier. die handelnden personen werden im dembowski-universum erklärt.