Hinspiel light
3:0 nach 60 Minuten geführt – am Ende nur 3:3 gespielt. Was den Blauen zu Beginn der Hinrunde im Westfalenstadion widerfahren war, wollte Trainer Fred Rutten jetzt endgültig abschütteln. Eine Revanche sollte das 133. Revierderby werden. Es wurde ein déjà vu.
Zum ultimativen Kräftemessen waren die üblichen 62.000 Zuschauer in die Turnhalle der Gesamtschule Berger Feld gekommen, deren Hausmeister vorsorglich das Dach geschlossen hatte, um den fiesen Nieselregen draußen zu lassen. Die wenigsten von ihnen erwarteten wohl eine Darbietung auf hohem sportlichen Niveau, hatten sowohl die Blauen als auch der BVB zuletzt doch ziemlich enttäuscht. Da die Dortmunder aber als hochoffizielle Nummereinsimpott anreisten, sollte klar sein, dass die Gastgeber das höhere Unzufriedenheitspotenzial in sich vereinten. „Verloren: Herz+Wille“ meckerte ein Banner und als der Name des Trainers vom Videowürfel blinkte, pfiffen die tausend Freunde einfach mal ein bisschen.
Auch personell sah die ganze Veranstaltung zunächst nicht gerade nach Partyfußball aus. Ellenbogenmensch Rafinha durfte mitmachen, bei Martial-Arts-Verfechter Lee hatte der DFB was dagegen. Zudem fehlte verletzt der Oberblaue Bordon, und die Tempofußballer Ivan Rakitic und Christian Pander saßen nur auf der Bank. BVB-Trainer Jürgen Klopp hatte sich offenbar überlegt, dass man drei Punkte am besten mit nur einem Stürmer holen kann, diese Aufgabe fiel Alex Frei zu - dem Helden aus dem Hinspiel.
Bereits die Anreise in die trostloseste Stadt der Welt barg wieder einmal viele wundersame Erscheinungen. So wurden einige Fans, die in eigens organisierten Bussen anreisten, zuerst von Polizeikräften begleitet, jedoch nach einigen Minuten wieder alleine gelassen auf ihrem Weg zum Gästebus-Parkplatz am Berni-Klodt-Weg. Als die Fans geschlossen gen Stadion gingen, wurden sie von Polizeikräften geleitet. Diese bogen prompt falsch ab, und so stand man plötzlich nicht wie erwartet am Gästeeingang, sondern vor den Toren der Gegengeraden. Konfusion bei den Polizeikräften. Und auch was das Spiel noch an Nebenschauplätzen mit sich brachte, lässt doch berechtigte Zweifel an der Organisation und Vorbereitung der Staatsdiener in grün auf dieses Spiel zu.
Das Spiel war gerade erst angestoßen, da zeigte der blaue Anhang schon die ersten Ausfallerscheinungen. Trotz geschlossenen Daches der Sportstätte fröstelte es einige Fans doch so sehr, dass sie Abhilfe mit einer gemütlich warmen gelben Decke suchten. Darin eingemummelt schienen sie sich wieder wohlzufühlen, wie ihr Singen und Tanzen verriet. Da das edle gelbe Tuch jedoch augenscheinlich einst mühsam in einer Dortmunder Manufaktur gefertigt und in einer kriminellen Aktion den Besitzer gewechselt hatte, schwoll dem Gästeblock kollektiv der Hals. Die Anreise von Dortmund in das kleine Fischerdörfchen an der Emscher war ja ohnehin schon von Pannen und Verspätungen geprägt gewesen, doch diese Aktion torpedierte doch jegliche Bemühungen vor dem Derby, die Situation ein wenig zu beruhigen. Man fragt sich in so einer Situation, warum es überhaupt Einrichtungen wie eine Sicherheitsvorbesprechung gibt, an der Vertreter beider Vereine und der Polizei teilnehmen. Das Versprechen des FC Meineid, sich an keinerlei Provokationen im Vorfeld eines Derbys mehr zu beteiligen, brach er erneut. In der Arena hängt unter anderem seit dem letzten Derby bereits ein Banner über der Nordkurve, das auf das Verschwinden des BVB-Banners anspielt: "Einst war ich schwatzgelb und hing im Süden". Wenn so Deeskalation in Gelsenkirchen aussieht, dann wünscht man sich doch, dass dieser Verein das Jahr 2010 nicht überlebe. Hier ist dann wohl im Speziellen der Russe gefragt.
Nach endlosem Kokettieren in der Vergangenheit präsentierte GE also zum Anpfiff das inzwischen angestaubte und längst ersetzte Gelbe-Wand-Banner oder zumindest eine Imitation davon. Fast überhastet, nicht dramaturgisch ausgeklügelt, als wolle man es einfach nur endlich hinter sich bringen. Irgendwie schämen sie sich doch, dass das geraubte Diebesgut die selbst produzierten Materialien in Größe, Qualität und Schönheit doch um einiges übertrifft. Diese Art von Aktion kommt einem bekannt vor: einst präsentierte der blauen Pöbel nach der "Gelbe Wand"-Aktion mehr schwarzgelbe Doppelhalter als er jemals selbst zu malen im Stande gewesen wäre.
Kaum Konstruktives
Und dann war da noch das Spiel, das eigentlich schnell erzählt ist: Wie üblich waren die Blauen sichtbar heißer als die Schwatzgelben. Körpersprache und Aggressivität setzten ein dickes Ausrufezeichen, während Klopps Kicker noch Fragezeichen über den Köpfen mit sich rumtrugen. Zwar senste Kevin-Prince Boateng gleich in der vierten Minute Mladen Krstajic so heftig um, dass dieser kurz danach ausgewechselt werden musste, Konstruktives ließ der BVB aber vermissen.
Nach einer Viertelstunde hatten die Gastgeber das bis dahin hektische Geschehen im Griff. Kevin Kuranyi setzte unbedrängt einen Kopfball nur knapp neben das Tor von Roman Weidenfeller. Fünf Minuten später düpierte der für Krstajic gekommende Halil Altintop leichtfüßig zwei Dortmunder an der Eckfahne und legte so punktgenau auf den freistehenden Kuranyi ab, dass dieser sich mit einem Seitfallzieher zum Tor-des-Monats-Favoriten machen konnte. Man kann über diese Karikatur eines Stürmers sagen, was man will: Im Derby ist er gefährlich wie kaum ein anderer.
Die Gästefans knüpften nach einem kurzen Schockmoment an ihre gute Leistung an und unterstützten ihr Team nach Kräften. Was dringend nötig war. Insgesamt war die Lautstärke im Gästeblock für Derby-Verhältnisse sehr ordentlich, zeigt sich doch bei diesen Spielen so mancher Fan zu angespannt, um fröhlich Dortmunder Liedgut zu trällern.
Auch in den folgenden Spielsituationen hätte der BVB-Abwehr ein staatlicher Rettungsschirm gut getan. Kaum einmal gelang es den Gästen, sich richtig zu befreien. Alex Frei hatte einen schweren Stand, Tamas Hajnal neutralisierte sich selbst. Eine Flanke von Patrick Owomoyela aus 30 Metern in die Arme von Manuel Neuer geht wohl nicht als Befreiungsschlag durch.
Stattdessen bekam Kuranyi auf der anderen Seite die Möglichkeit, sein spektakuläres Tor zu wiederholen. Marcel Schmelzer legte dem gegnerischen Stürmer per Kopf auf, der flog wieder quer durch die Luft, verfehlte sein Ziel aber knapp. Durchatmen.
Die emotionalste BVB-Aktion der ersten Halbzeit war womöglich ein Wortgefecht zwischen Sebastian Kehl und Nuri Sahin.
Boateng vor Platzverweis
Der gelb-rot-gefährdete Boateng blieb zur Sicherheit in der Kabine, an seiner Stelle schickte Klopp Mohammed Zidan in die Halle des Löwen. Auch wenn es nur bedingt an der Person des Ägypters festzumachen war, zeigten sich die Borussen doch klar verbessert. Aus der Drehung feuerte Tamas Hajnal einen schönen Schuss von der Strafraumgrenze ab (51.). Die Blauen zogen sich jetzt mehr in ihre Hälfte zurück und lauerten auf Konter, die dann schnell und überlegt auf Weidenfeller zurollten.
Speerspitze Alex Frei hatte vorzeitig Feierabend, wieso er (nur) noch zehn Minuten in der zweiten Halbzeit mitkicken durfte, weiß wohl nur sein Trainer. Für Frei nahm jetzt Nelson Valdez an der Mission Unentscheiden teil. Eine Mission, die der in der Hinrunde so souverän agierende Neven Subotic fast im Alleingang torpediert hätte. In der 60. Minute haute er als letzter Mann saftig über den Ball, Kuranyi konnte die Vorlage nicht nutzen. Dachte wohl zu lange über die Möglichkeit eines Seitfallziehers nach.
Drei Minuten später baute Subotic eine Kerze im Mittelkreis und jagte kurz darauf ohne Bedrängnis den Ball steil ins Aus.
Das Spiel wurde wieder zerfahrener, was den Gelsenkirchenern irgendwie die Konzentration raubte. Sie spielten lieber quer als nach vorne und zeigten schon wieder Ansätze der Überheblichkeit, die sie im Hinspiel den klaren Sieg gekostet hatte. Was dem BVB gute Chancen ermöglichte. In der 76. Minute spitzelte ein Abwehrfuß dem einschussbereiten Mohammed Zidan den Ball noch weg. Fünf Minuten später stocherte sich der ballverliebte Stürmer durch den gegnerischen Strafraum, verlor den Ball, bekam ihn dann irgendwie doch noch einmal aufgelegt – und knallte dem unterbeschäftigten Manuel Neuer das Ding ins Netz. Ausgleich! Und Domino-Day im Gästeblock.
Jetzt hatten die Blauen so viel Beton in den Beinen wie ihre Arena im Fundament. Angetrieben von einem in der zweiten Halbzeit starken Nuri Sahin und dem Gästeblock legte der BVB noch einmal nach. Und hatte plötzlich sogar die Chance zur Führung. Den strammen Schuss von Zidan konnte Manuel Neuer mit größter Mühe noch zur Ecke klären.
Wie erledigt die Blauen waren, zeigte symptomatisch eine Szene kurz vor dem Schlusspfiff, in der Kevin Kuranyi den Ball lieber langsam ins Aus rollen ließ, statt noch einen vielleicht letzten Angriff zu starten.
Nach dem Spiel war die Stimmung entsprechend gespalten. Ein Punkt (mal wieder) in GE war für die Mehrzahl der Fans zufriedenstellend, und doch wurde das Spiel überschattet von der Banner-Aktion, die jegliche Bemühungen torpedierte, die Gewaltspirale rund um die Rivalität zwischen beiden Vereinen zu stoppen.
Ab jetzt haben es die Verantwortlichen der Blauen zu verschulden, wenn in den nächsten Derbys auch weiterhin Gewalt, anstelle von "gesunder" Rivalität vorherrscht. Danke dafür.
Einzig erfreulich: Borussia Dortmund blieb auf sportlicher Seite ein bisschen glücklich mit einem Punkt Vorsprung Nummereinsimpott, das Heimpublikum pfiff seine Mannschaft aus und Fred Rutten hatte statt einer Revanche ein déjà vu bekommen. Vielleicht kommt ja bald noch ein neuer Job hinzu.
Stimmen zum Spiel:
Sebastian Kehl: In der ersten Halbzeit haben wir mutlos gespielt und viele Fehler gemacht. In der zweiten Hälfte haben wir dann den Ball laufen lassen und hatten mehr Spielanteile. Den Punkt haben wir uns verdient. Er bezeugt, dass wir als Mannschaft zurückkommen können. Jetzt müssen wir zu Hause nur mal einen Dreier holen.
Mohamed Zidan: Natürlich war es nicht schön, zunächst auf der Bank zu sitzen. Ich bin aber jetzt trotzdem zufrieden. Der Trainer hat mir gesagt, ich solle um jeden Ball kämpfen. Es war schon ein sehr schönes Gefühl für mich, hier ein Tor zu machen und einen Punkt zu holen.
Jürgen Klopp: Wir sind insgesamt zufrieden. Direkt in der Anfangsphase waren wir gut, aber haben in den entscheidenden Szenen den freien Mann nicht gesehen. Schalke hatte optisch Vorteile und spielte sehr dynamisch. Das 1:0 war ein Traumtor nach einem nicht sehr kleinen Fehler von uns. In der Halbzeit habe ich den Jungs dann Spielszenen und Bilder gezeigt, die ihnen zeigen sollten, dass nicht alles schlecht war, was sie da auf dem Platz gemacht haben. Ich habe ihnen freie Räume gezeigt. Das haben die Spieler dann beherzigt. Wir haben uns durchgebissen, es war ok.
Fred Rutten: Ich bin unzufrieden mit dem Ergebnis, aber nicht mit der Spielweise meiner Mannschaft. Wir haben gut gestanden, aber leider war meine Strategie nach der Auswechselung von Krstajic schon nach sieben Minuten weg. Altintop machte seine Sache dann aber gut. Kevin Kuranyi macht dann ein Weltklassetor. In der zweiten Halbzeit haben wir zu tief gestanden und die Dortmunder machten mehr Druck. Kevin muss dann das zweite Tor machen, dann ist das Spiel gelaufen. Ich bin jetzt enttäuscht.
Nennenswerte Statistiken
10:1 Ecken
1:4 gelbe Karten
Blau: Neuer – Rafinha, Höwedes, Krstajic (10. Altintop), Kobiashvili – Jones, Westermann, Engelaar – Farfan, Kuranyi, Asamoah
Gelb: Weidenfeller 3–, Owomoyela 4, Subotic 5, Santana 4+, Schmelzer 5–, Kringe 4-, (75. Kullmann), Kehl 5, Sahin 3, Boateng 3- (46. Zidan 2), Hajnal 5-, Frei 5 (58. Valdez 4+)
Schiri: Wolfgang Stark, nix zu meckern
Die Fotostrecke zum Spiel gibt es auf unserer Fotoseite foto.schwatzgelb.de.