Im Gespräch mit...

...Bert van Marwijk: "Fußball wurde erfunden, um so zu spielen"

05.11.2006, 00:00 Uhr von:  Ramona Desperado09 Arne Tommy
...Bert van Marwijk: "Fußball wurde erfunden, um so zu spielen"

Wir trafen Bert van Marwijk Mitte der Woche nach dem Training und sprachen mit dem Cheftrainer von Borussia über seine Fußballphilosophie, Systemwechsel und arrogante Holländer.

schwatzgelb.de: Herr van Marwijk, beschreiben Sie uns bitte Ihre Fußball-Philosophie.

Bert van Marwijk: Ich habe gerne die Initiative. Ich habe gerne den Ball. Ein Spieler, der oft den Ball berührt, fühlt sich besser. Das bedeutet, dass ich auch offensiv denke. Nur muss das immer verantwortungsvoll sein. Offensiv spielen heißt nicht, mit zehn Mann nach vorne zu rennen. Man kann in mehreren Organisationen offensiv spielen: mit zwei, drei oder einem Stürmer.

Meine Philosophie ist, dass ich gerne mit besetzten Seiten spiele. Aber ich beziehe immer auch immer die Qualität der Spieler mit ein. Ich kann ja nicht mit drei Stürmern spielen, wenn ich gar keine drei habe. Es gibt in Holland Trainer, die immer mit drei Stürmern spielen, egal, welche Spieler sie haben. Aber das tue ich nicht.

In der modernen Zeit sind alle Sportarten schneller und athletischer geworden. Man sieht, dass es weniger kreativ wird. Im Tennis etwa: Da blieben früher die Leute nachts auf, um die Spiele von John McEnroe oder Jimmy Connors zu sehen. Da gab es herrliche lange Ballwechsel. Das geht jetzt alles schneller, jeder Schlag muss hundertprozentig sein. Das ist im Fußball ähnlich. Wenn alles besser organisiert ist, bedeutet das, dass die Räume enger werden. Dann muss man versuchen, Räume zu schaffen. Natürlich will man offensiv spielen, also viel vorm Tor des Gegners sein. Aber dann macht man für sich selbst die Räume eng. Das muss man lösen.

schwatzgelb.de: In der letzten Zeit ist bei Borussia viel über Spielsysteme geredet worden, über 4-3-3 und 4-4-2. Wo sehen Sie da in Bezug auf unsere Mannschaft die Vor- und Nachteile beim jeweiligen System?

BvM
(greift zur Taktiktafel, verteilt die Spieler im 4-3-3-System): Der Vorteil bei drei Stürmern - das seht ihr ja hier - ist, dass die Verteilung auf dem Platz so eigentlich am besten ist. Man kann fast sagen, Fußball wurde erfunden, um so zu spielen. Die Spieler sind so am besten verteilt. Dann kann man natürlich auch noch so spielen (BvM verschiebt die Spieler, so dass der Mittelstürmer zurückgezogen wird), da hat man fast eine Nummer 10. Dann kann man überall Dreiecke bilden. Das bedeutet, dass das Positionsspiel eigentlich am einfachsten ist. Der Nachteil eines solchen 4-3-3-Systems ist, dass die Gegner oft so gut organisiert sind, dass die Außenstürmer blockiert werden. Dann wird das Spiel statisch. Das hat man bei der WM bei Holland gesehen. Die halten alle ihre Positionen, die überlaufen nicht. Wenn die Außenstürmer nicht gut funktionieren, hat man da ein Problem.

Wenn man mit zwei Stürmern spielt und zum Beispiel mit einer Raute dahinter (er verschiebt die Spieler auf der Tafel in ein 4-4-2-System), dann sieht man schon, dass man große freie Räume auf den Seiten hat. Das bedeutet, dass die Außenverteidiger viel Platz haben, um zu kommen. Man muss dann auch Mittelfeldspieler haben, die überlaufen. Man hat viel Raum, muss sich aber viel bewegen. Die Stürmer müssen auch oft auf die Seiten gehen. Nur, wenn man so spielt, sieht man auch, dass man dem Gegner viel Raum lässt. Wenn eine Mannschaft in ihrer Entwicklung noch nicht so weit ist, dann gibt man oft die Initiative an den Gegner ab.

Ich will aber gerne die Initiative behalten. In Holland, Brasilien, Spanien will man die Initiative haben. In Belgien zum Beispiel, spricht man auch von Initiative, aber dann hat der Gegner den Ball. Die wachsen ganz anders auf. Ich denke, Deutschland ist ein bisschen dazwischen. In Deutschland kann man sehr gut so spielen (verschiebt sein 4-4-2-System komplett in eine Hälfte): Das haben wir sehr oft gesehen. Alles in der eigenen Hälfte, die Stürmer zehn Meter hinter der Mittellinie. Am besten noch zu Hause! Und wir spielen, spielen und spielen, haben Ballbesitz, und dann kommt ein Konter und wir verlieren das Spiel. „Die haben taktisch gut gespielt“, sagt man dann immer. Das wird hier akzeptiert. Das ist eine Philosophie.

"Am Ende gewinnt man, wenn man verantwortungsvoll offensiv denkt"

Unsere Redakteure im Gespräch mit Bert van Marwijk (und Pressesprecher Josef Schneck)

Nur sage ich, wenn man zehnmal gegen so einen Gegner spielt, dann dürfen wir ein- oder zweimal verlieren. Aber am Ende gewinnt man, wenn man verantwortungsvoll offensiv denkt. Es macht ja auch weniger Spaß, wenn man das ganze Spiel hinter einem Gegner her läuft. Nur für den Stürmer, der 90 Minuten lang vorne wartet und dann das Tor schießt, ist das natürlich toll.

Bei uns ist es so, dass wir keinen „gelernten“ Außenstürmer mehr im Kader haben. Odonkor, Buckley und van der Gun sind weg. Buckley war ein typischer Außenstürmer, David auch. Van der Gun noch mehr. Jetzt habe ich vier Stürmer: Amoah, Valdez, Smolarek und Frei, wobei Smolarek eigentlich kein Mittelstürmer ist, aber er hat gezeigt, dass er das auch gut spielen kann. Zuletzt sind wir zu einem System mit drei Stürmern zurückgekehrt. Aber doch deutlich anders als in der vorigen Saison, in der wir mit Odonkor und Buckley und einem zentralen Stürmer gespielt haben. Beim letzten Spiel waren es drei Stürmer, aber kein echter Außenstürmer.

Man kann lange über Organisation und Taktik nachdenken, es geht aber auch um die Ausführung. Barcelona spielt mit Ronaldinho, Eto’o und Messi. Dabei ist Ronaldinho ja auch kein Außenstürmer. Der zieht auch oft nach innen.

Was noch ein Vorteil von drei Stürmern ist, dass man besser verteidigen kann. Man kann den Gegner einfacher unter Druck setzen. Wenn hinten eine Viererkette steht (die Finger fliegen über die Taktiktafel, hinten steht eine Viererkette, davor drei Stürmer. BvM zeigt, wie die Stürmer aggressiv die Abwehrspieler attackieren, sich verschieben und die Räume eng machen), das haben wir heute noch die ganze Zeit trainiert, dann muss dieser Stürmer die richtige Laufaktion machen. Er muss den einen Verteidiger zwingen, den Ball zum anderen zu spielen, und er muss so laufen, dass kein Rückpass möglich ist. Der nächste Stürmer muss schon nach innen kommen und so weiter. So kann man Druck machen und dann ist auch das Feld wieder gut besetzt.

Wenn man das mit zwei Stürmern macht, dann sieht man schon, dass hier viel Raum ist. Dann muss ein Mittelfeldspieler rauskommen, dann muss man sich überall ständig verschieben. Das kann sehr gefährlich sein. Oder man lässt die Außenverteidiger weiter vorne spielen. Aber da kann man dem Gegner schnell die Initiative überlassen. Mit drei Stürmern kann man etwas einfacher verteidigen.

Wenn ich an meine Mannschaft denke, an die Qualitäten, die sie hat, und an den modernen Fußball, sage ich: So spielen, wenn der Gegner den Ball hat (er baut ein 4-3-3 auf). Wenn wir den Ball haben, so spielen (4-4-2). Aber das gelingt nicht immer.

Dann muss es so sein, wie wir jetzt gespielt haben: Valdez und Smolarek vorn, Frei zurück – jetzt habe ich wieder eine Raute. Das ist unglaublich überraschend. Die beiden Stürmer können in den Strafraum eindringen, Frei läuft zurück (Frei, Valdez und Smolarek bilden nun ein Dreieck), der Innenverteidiger geht nicht mit ihm mit, weil da von der anderen Seite auch noch ein Stürmer kommt. Wenn die noch weiterlaufen, kreuzen sie – dann ist Chaos in der Abwehr. Wenn die Ausführung gut ist! Auf dem Papier kann man alles gewinnen.

Das, was ich hier erzähle, trainieren wir. Man kann aber nicht sagen, dass man das alles schon Samstag sieht. Man braucht oft Monate, ein halbes Jahr oder ein Jahr, um den Spielern das beizubringen. Viele Trainer sagen, sie können vier, fünf Systeme spielen. Das finde ich gut, aber ich denke die Spieler können das nicht. Es kostet so viel Zeit und Arbeit, ein System zu trainieren.

Was ich jetzt will, die Mischung aus 4-3-3 und 4-4-2, das ist schon ein Detail, von dem ich denke, dass es klappt. Aber die Gefahr ist jetzt, wenn ein Gegner den Ball hat, dann müssen wir sofort die Formation finden. Dann ist es mir egal, ob da vorne jetzt Valdez rechts oder links steht. Man muss aber schnell umschalten. Das bedeutet nicht nur viel und schnell laufen, Umschalten heißt auch schnell denken. Wenn man schnell denkt, muss man auch nicht viel laufen. Man muss lernen, effektiv zu laufen.

Ich bin zuletzt auch deshalb zu drei Stürmern zurückgekehrt, weil so viel Unruhe herrschte. Das wisst ihr ja selbst. Ich wollte die Mannschaft in ein ruhigeres Fahrwasser bringen. In dem System, in dem sie zwei Jahre gespielt haben, fühlen sie sich in dieser Phase möglicherweise sicherer. Gleichzeitig habe ich gedacht, dass meine Stürmer das können, und es dann auch gefährlicher für den Gegner ist. Wir haben ja in Nürnberg in der ersten Halbzeit schon sehr gute Chancen gehabt. Wenn wir dann zwei Tore geschossen hätten, hätten alle gesagt: „Das hat der Trainer gut gesehen.“

Ich mag keinen „Zufallsfußball“, aber die Spontaneität muss auch bleiben. Ein Spieler muss auch mal die Verantwortung übernehmen und etwas alleine machen. Hier darf er auch einen Fehler machen (schiebt einen Spieler in den gegnerischen Strafraum), hier muss er vielleicht auch mal einen Fehler machen. Aber hier hinten darf er das nicht! Wenn ein Außenverteidiger in der Vorwärtsbewegung fünfmal einen dummen, einen saudummen Fehler macht, dann rücken die anderen defensiven Spieler nicht mehr nach. Dann rückt das Mittelfeld nicht nach, und vorne stehen die Stürmer und zwischen ihnen und dem Mittelfeld ist ein riesiges Loch.

BvM mit der Taktiktafel

schwatzgelb.de: Also soll der Systemwechsel der Mannschaft mehr Sicherheit geben?

BvM: Die Kombination aus 4-3-3 und 4-4-2. Ich habe auch die Spieler, mit denen ich so spielen kann. Ich habe Spieler, die Raum brauchen, um vor das Tor zu kommen. Aber man darf nicht ständig nur über System und Taktik reden. Den Fehler machen wir in Holland oft. Wichtig ist, dass die Spontanität bleibt. Ich habe in Rotterdam mit viel mehr Nationalitäten zu tun gehabt. Europäer spielen taktisch viel disziplinierter als Afrikaner oder Südamerikaner. Ich habe oft acht gegen acht spielen lassen, Europäer gegen Nicht-Europäer. Die Europäer waren immer gut organisiert. Die anderen konnten selten dagegen gewinnen. Also, was ist das Beste?

schwatzgelb.de: Wahrscheinlich die Stärken von beidem zu vereinen.

BvM: Ja, exakt. Man muss von einander lernen. Ganz großen Spielern muss man aber auch ihre Freiheit geben.

schwatzgelb.de: So wie Ronaldinho bei Barcelona, über den der Trainer geäußert hat, dass er der einzige im Team ist, der keiner festen Position zugeordnet ist?

BvM: Wenn man wie Barcelona weiß, dass man auf allen Positionen besser ist als der Gegner, dann ist das kein Problem. Dann kann sagen: Ronaldinho – hier, bitte! Aber wenn man gleich stark ist oder schwächer, dann verliert man. Als wir den UEFA-Pokal gewonnen haben, hatten wir weniger Qualität als Dortmund, Glasgow oder Inter. Aber wir waren besser organisiert und eine richtige Mannschaft, dadurch haben wir gewonnen. Eine erfahrene, gute Mannschaft wie Dortmund konnte natürlich sagen: „Amoroso läuft nur da vorne rum und macht sein eigenes Spiel.“ Aber wenn man nicht deutlich stärker als der Gegner ist, kann man dadurch auch verlieren. Dann braucht man nämlich alle Spieler optimal. Versteht ihr, was ich meine?

schwatzgelb.de: Ja. Das war in Dortmund ja ähnlich, als Andi Möller alle Freiheiten im Spiel hatte.

BvM: Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu Andi Möller und er hat mir genau dasselbe gesagt. Er sagt: „Die hatten mich freigelassen. Aber ich muss dann auch was draus machen.“

schwatzgelb.de: Sie sagten gerade, es könne viele Monate dauern, bis Spieler so ein System verstanden haben. Wie funktioniert es überhaupt, ein System zu vermitteln?

BvM: Hauptsächlich durch Wiederholung. Es ist immer schön, wenn man das Kompliment bekommt, das Training sei sehr abwechslungsreich. Aber Fußball ist eigentlich Wiederholung, immer wieder dasselbe, immer wieder. Ich habe mal ein Tennisspiel von John McEnroe gesehen: Der hat zweieinhalb Stunden lang jeden Aufschlag auf denselben Punkt spielen wollen. Immer auf denselben Punkt. Alles Wiederholung. Er hätte das Spiel locker gewinnen können, aber er musste den Ball immer unbedingt auf diesen Punkt haben. Das ist die richtige Mentalität, finde ich. Es geht darum, ein Training abwechslungsreich zu machen, aber es geht trotzdem um Wiederholung. Heute habe ich das Training an die drei Stürmer angepasst und wie sie verteidigen müssen. Valdez hat ein tolles Tor geschossen, das war ein Vorbild für schnelles Umschalten und fing schon hinten bei Roman an.

schwatzgelb.de: Mir ist aufgefallen, dass Weidenfeller inzwischen öfter aus der Hand abschlägt, statt den Ball fallen zu lassen und vom Boden zu schießen. Gehört das zum schnellen Umschalten dazu? Bei Bayern heißt es ja immer, dass Olli Kahn mit seinen Abschlägen zwei, drei Tore pro Saison vorbereitet.

BvM: Ja, wir haben mit Roman darüber gesprochen, dass es schneller geht.

"Wir stehen hier und wir machen das jetzt"

Bert van Marwijk erklärt unseren Redakteuren seine Taktik

schwatzgelb.de: Wenn wir über Training und seine Philosophie sprechen: Warum sind holländische Trainer Ihrer Meinung nach solch ein Exportschlager?

BvM: Ich glaube, das ist Zufall. Es gibt ja immer Wellenbewegungen. Ich habe ja auch lange vor der WM gesagt, dass Deutschland auch spielerisch eine sehr gute Mannschaft hat. Da bin ich ausgelacht worden. Aber die Viererkette brauchte ihre Ruhe. Und es gibt Ballack, Frings, Schweinsteiger, Podolski und Klose, und da vergesse ich sicher noch ein paar. Das sind gute, kreative Spieler. Das ist im Moment so. Vielleicht ist das bei den Trainern genau dasselbe. Ich weiß nicht, ob vor zehn Jahren auch so viele holländische Trainer im Ausland waren. Im Moment ist es auffällig, dass so ein kleines Land so viele Trainer im Ausland hat. Ich habe darüber aber noch nie nachgedacht. Ich weiß nur, dass die Trainerausbildung in Holland sehr lange dauert. Da gab es früher viele Proteste, dass die viel zu ernst war. Aber alle sehen nun, dass die Ausbildung sehr gut ist. Vielleicht sind wir Holländer auch etwas frecher und arroganter. Johan Cruyff sagt immer, dass Arroganz sehr positiv sein kann. Aber Arroganz kann auch negativ sein. Positive Arroganz muss bedeuten: Wir stehen hier und wir machen das jetzt. Holländer haben oft die Meinung: „Wir wissen alles besser.“ Man muss aber auch etwas stur sein und seinen eigenen Weg gehen, dabei aber trotzdem auch gut zuhören.

Früher dachte ich, dass ich alles am besten wüsste. Keiner wusste es besser als ich. Ich habe aber gelernt, zuzuhören. Trotzdem gehe ich meinen Weg. Wenn mich dann unterwegs einer nach Hause schickt, dann ist mir das egal. Wenn man nicht zufrieden mit mir ist, dann gehe ich. Aber auf meine Weise.

schwatzgelb.de: Kann man diese Arroganz den Spielern vermitteln? Also, die gesunde Arroganz natürlich.

BvM: Man darf da nicht zu viel drüber reden. Man muss es vorleben, dann kann es sein, dass es übernommen wird.

schwatzgelb.de: Gab es für Sie Vorbilder als Trainer?

BvM: Nein, ich hatte nie Vorbilder. Das soll nicht arrogant klingen. Ich habe mein ganzes Leben alles alleine gemacht. Ich habe schon als Fußballspieler, da war ich noch ganz klein, gelernt, mich zu wehren. Wir sind auf der Straße aufgewachsen und haben jeden Tag Fußball gespielt. Wenn wir sieben Leute waren, haben wir drei gegen drei gespielt. Dann haben wir einem gesagt: „Du spielst nicht mit, du musst warten, bis einer nach Hause geht.“ So bin ich aufgewachsen. Das ist mein Charakter.

schwatzgelb.de: Was waren Sie für ein Spielertyp?

BvM: Sehr schwierig für den Trainer. Ab und zu hatte ich einen zu großen Mund und war sehr eigensinnig. Ich war erst Linksaußen, später dann im Mittelfeld und am Ende war ich Libero. Ich war 17 Jahre alt, und hatte ganz lange Haare, als ich mein erstes Spiel in der Ehrendivision gemacht habe. Damals wurde man von den älteren Spielern erzogen. Wenn ich mal wieder einen großen Mund hatte, dann haben die mich vom Trainingsplatz geschossen. Alles haben die getan. Die haben mich getreten. Aber ich kam am nächsten Tag immer zurück.

schwatzgelb.de: Ist das auch ein Grund, warum Sie so streng mit Phillip Degen sind?

BvM: Das ist vielleicht so. Ich denke, dass Strenge sehr gut für einen Menschen ist, um sich durchzusetzen. Wir haben jetzt eine andere Generation, aber trotzdem war früher nicht alles schlecht. Das versuche ich mitzugeben – positiv gemeint! Da bin ich vielleicht gelegentlich zu weit gegangen, aber es war immer positiv gemeint. Das wissen mittlerweile auch alle.

Ich weiß auch, dass man den einen Spieler anders anpacken muss als den anderen. Das ist Menschenkenntnis, die man haben muss. Ich habe nur ein Ziel: Ich will die Spieler verbessern. Ich mag alle meine Spieler. Aber ich habe keine Lieblingsspieler, glaubt mir. Ich wurde hier von Anfang an gelobt von den Spielern, dass sie einen Trainer haben, der nicht auf die Namen achtet. Das tue ich noch immer nicht. Mir ist egal, ob ich mit Wörns, Degen, Sahin oder Weidenfeller schimpfe. Eher wenn ich nichts mehr sage, dann ist es nicht so gut. Das war in meiner Zeit schon so. Ich bin so aufgewachsen, aber ich lerne natürlich weiter. Der Humor früher war oft sehr zynisch und ironisch. Das kann ab und zu problematisch sein, weil es vielleicht oft nicht so rüberkommt, wie ich es meine.

"Ich muss meinen Weg gehen"

schwatzgelb.de: Ironie hat es schwer in Deutschland.

BvM: Ich meine das meistens positiv.

schwatzgelb.de: Bei Degen hatten wir immer das Gefühl, Sie seien oft so sauer auf ihn, weil Sie wissen, dass er mehr kann, es aber nicht zeigt.

BvM: Das hast du sehr gut gesagt.

schwatzgelb.de: Sie sagen, Sie gehen immer Ihren Weg. Für diesen Weg sind sie ja in letzter Zeit kritisiert worden...

BvM (lacht): ...ein bisschen. Ich muss meinen Weg gehen. Aber ich muss immer in den Spiegel gucken können und ich kann jedem, mit dem ich gearbeitet habe, noch in die Augen sehen. Ob man mich mag oder nicht. Eigentlich will ich da nichts mehr drüber sagen. Aber auffällig ist, dass alle auf dieselbe Weise auf mich zugekommen sind und gefragt haben: „Was ist los?“ Ich bin damit zum ersten Mal in meinem Leben konfrontiert worden. Das war für mich eine sehr fremde und auch negative Erfahrung. Das bedeutet nicht, dass ich mich dadurch beeinflussen lasse. Wenn ich auf dem Trainingsplatz stehe, dann ist mir alles egal. Dann mache ich das, was ich immer tue.

Wir sind zwei Jahre lang so gelobt worden, für die jungen Spieler und den Fußball. Und auf einmal sollte alles falsch sein. Was mir sehr gut getan hat, war, dass die Fans mich vor und nach dem Spiel gegen Hannover unterstützt haben. Die Transparente beim Training und die E-Mails, die ich bekommen habe, waren alle positiv.

schwatzgelb.de: Im Moment sind eher die Spieler im Fokus der Fans. Man fragt sich, warum die nicht laufen. Der Trainer wird ihnen das kaum verboten haben.

BvM: Wenn du als Spieler völliger „Besitz“ des Publikums bist und jeden Tag solche Sachen liest, dann wirst du nicht besser. Wenn dann irgendwas passiert, dann fühlst du das in deinen Beinen. Dann willst du, aber es geht nicht. Ich kenne Kollegen, deren Frauen nicht mehr aus dem Haus gehen wollen, weil alle über den Mann schimpfen. Ich kenne Kinder, die in der Schule beschimpft wurden, weil der Vater Trainer oder Spieler ist. Man darf das nicht unterschätzen. Ich will nichts schönreden. Aber dass eine Mannschaft ein bisschen verunsichert ist, das ist völlig normal. Mich hat eigentlich gewundert, dass wir in Nürnberg eine für diese Situation sehr gute Leistung gebracht haben. Unter solchen Umständen kann man nicht von jetzt auf gleich umschalten. Wir haben viele junge Spieler, die alle sehr gut spielen können. Aber auf deren Schultern lastet schon so viel Verantwortung.

"Nuri hat in seinem Alter schon so viel erlebt"

Bert van Marwijk

schwatzgelb.de: Haben Sie deswegen auch Sahin erst in Nürnberg eingewechselt? Gegen Bochum haben um mich herum auf der Südtribüne schon ein paar Leute seine Einwechslung gefordert. Ich habe denen gesagt, dass man ihn in diesem Spiel nur kaputt machen kann.

BvM: Das hast du auch sehr gut erkannt! Wenn es gegen Hannover elf gegen elf geblieben wäre, hätte ich ihn gebracht. Das habe ich ihm auch gesagt. Er weiß schon, dass er wieder näher dran ist. Nuri hat in seinem Alter schon so viel erlebt. Als ich mit 17 Jahren zum ersten Mal in der Ehrendivision gespielt habe, waren wir dreimal im Jahr im Fernsehen. In Schwarzweiß. Ich musste dann meinem Vater immer zeigen, wo ich gerade ganz klein zu sehen war. Da wurde ich bei uns in der Region erkannt. Heute spielst du zehn Minuten, dann kennt dich ganz Deutschland. Dann musst du mal sehen, was Nuri alles erlebt hat, wie positiv verrückt die in der Türkei waren, als wir dort gewesen sind. Er ist ein sehr nüchterner Junge, aber das war so viel. Er merkt das selbst gar nicht. Er spielt einfach gerne Fußball. Ich hätte gedacht, dass bei ihm viel früher der Rückschlag kommt. Er kam etwas später, hat aber auch lange gedauert. Dann muss man ihn etwas schützen und ihn zurücknehmen. Jetzt kommt er allmählich wieder zurück.

schwatzgelb.de: Ist er schneller geworden?

BvM: Wir haben an seiner Explosivität gearbeitet. Ich habe das Gefühl, dass sie sich deutlich verbessert hat. Er ist auch körperlich stark geworden. Und frischer.

schwatzgelb.de: War das Spiel gegen Bochum ein Beispiel dafür, dass man will und einfach nichts geht?

BvM: Ja. Glaub mir, die Spieler wollen immer. Man kann Spielern auch einen Komplex einreden. Das geht unglaublich schnell. Wenn wir zweimal in der letzten Minute verlieren, dann heißt es, die Kondition ist weg. Da muss ich lachen. Wir gewinnen in Stuttgart mit 3-1, haben gegen den HSV hart gearbeitet. Dann spielt ein Spieler schwächer und angeblich sind alle platt. Man sieht doch, ob eine Mannschaft fit ist oder nicht. Da muss man nur zum Training kommen.

schwatzgelb.de: Hat es Ihnen Kraft gegeben, dass der Vorstand Ihnen den Rücken gestärkt hat?

BvM: Ich mag Deutlichkeit. Und ich denke, das war sehr deutlich und hat dem Verein auch mehr Ruhe gegeben.

schwatzgelb.de: Wie hat die Mannschaft das aufgenommen?

BvM: Ich denke, auch positiv. Die wollten das vielleicht auch gerne hören.

schwatzgelb.de: Gegen Nürnberg gab es zwei Situationen gleich am Anfang, wo ich dachte, das Spiel geht mit Sicherheit verloren, wenn die Mannschaft genauso drauf ist wie gegen Bochum oder Hannover. Ein übler Querpass vorm eigenen Sechzehner und Dedes Rückpass in den Lauf des Gegners. Danach hat sich die Mannschaft aber gefangen und das Spiel an sich gerissen. Hat das vielleicht auch an der neuen Sicherheit gelegen?

BvM: Das kann schon sein. Aber die Spieler können das oft selbst auch nicht erklären. Man hat immer gemerkt, dass die Atmosphäre nicht zu gut, aber doch gut war. Trotzdem war sie gegen Nürnberg ein bisschen anders, etwas spontaner vielleicht. Die Mannschaft hat das gebraucht, denke ich.

schwatzgelb.de: Herr van Marwijk, vielen Dank für die interessanten taktischen Einblicke!

Bert van Marwijk unterschreibt die Taktiktafel für die Auktion

Sämtliche Bilder vom Interview gibts HIER.

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Jede Spende wird zu 100 % weitergegeben. Entstehende Kosten im Rahmen der Vereinstätigkeit werden von den Mitgliedern des Vereins übernommen.

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