Die schwatzgelb.de WM-Kolumne 2002 - Teil 7: Morgengrauen, Zwischenepisode III - Ich bin doch nicht nachtragend…
Ich bin wirklich nicht nachtragend. Ich kann kaum etwas länger übel nehmen als 20 Minuten; gut, wenn es schlimm kommt, vielleicht 20 Stunden, ganz bestimmt aber keine 20 Tage. Außer Gijon 1982. Das nehme ich seit fast 20 Jahren übel.
Aber beginnen wir mit dem Anfang. 1970 in Mexiko war die erste WM, die ich bewusst miterlebte. Ich hätte schon die Chance gehabt, das Endspiel 1966 mit zu durchleiden, mit spätem Ausgleich, mit Verlängerung und dem Wembley-Tor. Ich könnte sagen, ich war dabei. Aber damals interessierte mich Fußball nicht die Bohne. Während sich die Verwandtschaft vor dem Fernsehschrank meiner Großeltern versammelte, ging ich nach draußen zum Spielen.
Als die WM 1970 angepfiffen wurde war ich neun. Die Sommerferien ließen wie in jedem Jahr viel zu lange auf sich warten. Die Pläne, mich nach den Ferien aufs Gymnasium zu schicken, riefen bei meiner Klassenlehrerin zumindest kein spontanes Protestgeschrei hervor. Ich wertete das als Zustimmung und widmete mich den wichtigeren Dingen meines Lebens - zum Beispiel meiner frisch erwachten Fußball-Leidenschaft. Ich war reinen Herzens und liebte meine Nationalmannschaft. Ich zitterte mich mit den Männern in schwarz-weiß (das hatten sie mit unserem Fernseher gemeinsam) zum mühevollen 2:1 Auftaktsieg gegen Marokko; ich triumphierte mit ihnen beim 5:2 über Bulgarien und feierte mit ihnen nach dem 3:1 gegen Peru den Gruppensieg.
Ich liebte Uwe Seeler und ich bewunderte Franz Beckenbauer. München war für mich einfach nur weit weg (in der Grundschule gab es nur "Heimatkunde", ein Fach, das mir das Wissen bescherte wo Dortmund, Münster und die Soester Börde liegen. Nur Schalke blieb mir ein Rätsel. Das kam auf meiner Karte nicht vor - und daran hat sich bis heute nichts geändert). Ich durchlitt das Viertelfinale gegen England, als der Ball nach einem 0:2-Rückstand in der Verlängerung über Uwe Seelers Hinterkopf doch noch zum 3:2 ins Tor von Peter Shilton trudelte. Nur die legendäre Verlängerung beim 3:4 gegen Italien blieb mir vorenthalten. Schnellingers 1:1 brachte mich nicht wieder ins Rennen. Ich musste ins Bett.
Damals glaubte ich alles, was mir Ernst Huberty, Harry Valerien und die anderen sagten. Ich glaubte an die fairen deutschen Helden, geschlagen von einer Mischung aus Catenaccio, versteckten Fouls und südländischer Schauspielkunst. Ich glaubte an den Mannschaftsgeist, der erst viel später in "Team-Spirit" umbenannt wurde - wahrscheinlich damit unsere Kicker sich nicht vor ihm fürchten.
Die Zeit bis zur nächsten WM vertrieb ich mir damit, mich in die Borussia zu verlieben. Gemeinsam stiegen wir ab und fanden uns in den Niederungen der Regionalliga West wieder. Ich sah die ersten Spiele im Stadion: Entweder am Stimberg bei der SpVgg Erckenschwick oder in der Kampfbahn Schwansbell beim Lüner SV - ganz nach der Vorliebe des Onkels, der mich jeweils mitnahm. Zur Roten Erde fuhr niemand. Ich wusste inzwischen wo München liegt. Weit weg - und das war schon der erste Grund, der gegen die Bayern sprach.
Als die WM 1974 mit dem 1:0 gegen Chile begann, konnte ich den Namen von Peter Shilton einwandfrei aussprechen. Das nützte mir wenig: Die Engländer waren nicht dabei. Ich litt mit - wie mir schien - der ganzen Nation unter Jürgen Sparwassers 0:1. Ich machte mir erst Jahre später Gedanken, dass die irreguläre Wasserschlacht von Frankfurt im letzten und entscheidenden Spiel der Zwischenrunde einseitig die Polen benachteiligte. Die steilen Bälle auf ihre schnellen Außen Lato und Gadocha, die Italien zur Verzweiflung getrieben hatten, blieben im Schlamm stecken. Gerd Müller tauchte aus irgendeiner Pfütze auf und knickerte den Ball `rein - Finale. Wieder saß die ganze Verwandtschaft vor dem Fernseher. Ich ging nicht Spielen, sondern zitterte eine endlose zweite Halbzeit mit um das 2:1. Ich sah Hölzenbein vor dem Elfmeter fliegen, den Breitner zum 1:1 verwandelte - aber eine Schwalbe war für mich damals nur ein Vogel. Außer dem Titel brachte uns die WM `74 den ersten Farbfernseher - eine Woche nach dem Endspiel.
Auf diesem Fernseher sah ich mit Entsetzen und in Farbe, wie Uli Hoeneß 1976 den Ball in den Abendhimmel über Belgrad drosch. Ich feierte den Wiederaufstieg in die Bundesliga und war zum ersten Mal im Westfalenstadion (7:2 gegen den KSC). Als die WM 1978 kam, war ich dabei, die höchste Bundesliganiederlage der Schwatzgelben zu verdauen. Meine Haare hatten endlich meine Schultern erreicht und tasteten sich in Richtung der Aufschläge an meiner Jeans-Jacke vor. Ich hatte die Biografie von Che Guevara gelesen und hörte Frank Zappa (der Punk hatte seine ungewaschenen Finger noch nicht bis zu meiner kleinen westfälischen Heimatstadt ausgestreckt). Franz Beckenbauer war zu Cosmos New York gegangen und ich konnte die Bayern trotzdem nicht leiden.
Die WM 1978 war trostlos. Die deutsche Mannschaft glänzte nur beim 6:0 gegen Mexiko in der Vorrunde, produzierte aber ansonsten ein Remis nach dem anderen. Ich fieberte mit, als sie ihre letzte Chance gegen die Niederlande hatte und wieder nur 2:2 spielte. Und dann Cordoba: Rolf Rüssmann ließ Hans Krankl entwischen , alle mussten sich tagelang Edi "i werd narrisch" Finger anhören und Jupp Derwall nahm den Platz von Helmut Schön ein.
Ich wanderte ein Jahr später nach Berlin aus. Die Haare wurden kurz und bunt, die Musik bestand aus zwei bis drei Akkorden. Ich begleitete die Hertha auf dem Weg in die zweite Liga und ich sah mein einziges Länderspiel im Stadion: Ein 1:0 gegen Argentinien. Meine Borussia besuchte ich, wann immer sich die Chance bot.
Franz Beckenbauer ging zum HSV und ich wechselt zur Uni nach Dortmund und als rechter Verteidiger zu Dynamo Breitseite. Ich kann mich an keinen Sieg erinnern. Neben unserem Tor stand immer ein Kasten Bier und in der Halbzeit verschwanden der Torwart und mein Kollege von der linken Abwehrseite im hohen Gras hinter der Aschenbahn, um dort durch das Rauchen getrockneter Kräuter die Fußballgötter zu besänftigen. Mit Erfolg: Zumindest wurde es nie zweistellig.
Und dann begann die WM 1982, die erste in meiner Karriere als Fan, in die das deutsche Team mit einer Niederlage startete und die unser Verhältnis grundlegend veränderte. Dem 1:2 gegen Algerien folgte ein 4:1 gegen Chile. Die Entscheidung, wer aus der Gruppe die Zwischenrunde erreicht, musste im letzten Spiel gegen Österreich fallen, in Gijon. Bei einer hohen Niederlage wäre Österreich ausgeschieden. Marokko hatte zwar gegen die Kicker aus dem Nachbarland verloren, aber gegen Chile gewonnen. Die Deutschen mussten siegen, um weiterzukommen. In der 10. Minute erzielte Hrubesch das 1:0 - und dann passierte nichts mehr. Nein schlimmer: Die vollmundig verkündete Rache für Cordoba fiel aus. Deutsche und Österreicher schoben sich 80 Minuten lang gegenseitig den Ball zu und die neutralen Zuschauer pfiffen sich die Seele aus dem Leib.
Dieses Spiel öffnete mir die Augen: Ich sah, wie schön das Spiel der Südamerikaner war. Ich sah, welche technischen Feinheiten die Italiener trotz ihrer Defensivtaktik boten. Und ich sah, dass die deutsche Nationalmannschaft zu einem großen Teil aus Spielern vom FC Bayern bestand, die dort genauso wie in der Bundesliga spielten. Ich hasste sie, weil sie nur das Spiel des Gegners zerstören konnten, weil sie rannten und kämpften, aber nicht Fußball spielten. Ich hasste sie, weil sie damit auch noch bis ins Endspiel kamen und ich freute mich, dass zumindest im Finale Rossi, Tardelli und Altobelli die Italiener zum Titel schossen.
Dieses Gefühl verließ mich 20 Jahre lang nicht mehr: Ich triumphierte über das Aus gegen Spanien im Viertelfinale der Europameisterschaft 1984. Ich stöhnte, weil sich die Truppe von Franz Beckenbauer mit ihrem Anti-Fußball 1986 schon wieder ins Finale mogelte - Beckenbauer, als Fußballer ein Filigrantechniker, der als Trainer auf Zehnkämpfer wie Briegel setzte. Das Ausscheiden bei der Europameisterschaft 1988 wurde mir nur dadurch vermiest, dass ausgerechnet die Holländer triumphierten, die nach ihrem Sieg alles für die Völkerverständigung taten, insbesondere der Spieler Koeman.
Bei der WM 1990 war München plötzlich ganz nah: Ich arbeitete bei einem Münchner Verlag und fristete zwei Jahre lang mein Fan-Dasein im Gästeblock des Olympiastadions. Bei der WM-Feier auf der Leopoldstraße rief ich mit hunderten anderer "Kamerun, Kamerun". Ich feierte die beiden dänischen Tore im Finale der Europameisterschaft 1992 und verzeichnete mit Entzücken das Ausscheiden beim WM-Turnier 1994 nach dem Tor von Jordan Letchkov gegen Bulgarien im Viertelfinale. Ich machte wegen Matthias Sammer 1996 eine Ausnahme und ergötzte mich an Bertis bedröppelter Miene 1998 nach dem 0:3 gegen Kroatien umso mehr (der hatte es sich ganz besonders mit mir verscherzt, weil er sich auch noch Lothar Matthäus vom deutschen Bildungsblatt Nummer 1 in die Mannschaft schreiben lassen hatte). Beim Ausscheiden in der Vorrunde der EM 2000 empfand ich späte Genugtuung - kurzum, ich verhielt mich wie jemand, der erkennt, dass ihn seine Geliebte jahrelang über ihr wahres Wesen getäuscht hat, der ihr deshalb alles Schlechte wünscht und dabei insgeheim hofft, dass sie sich doch noch zum Besseren ändert - und das seltsamerweise 20 Jahre lang.
Noch bei der Qualifikation für die WM 2002 spürte ich eine gewisse Enttäuschung in der Magengegend, als Deutschland in Dortmund 4:1 gegen die Ukraine siegte. Bei meinem WM-Tipp ließ ich das deutsche Team - wie immer - nach dem Achtelfinale ausscheiden (ich rechnete damit, dass sie sich doch wieder irgendwie durch die Vorrunde wurschteln würden).
Und dann kam der letzte Dienstag, Kamerun gegen Deutschland: Mein Außenseitertipp für das Finale gegen meine ungeliebten Landsleute. Afrikanische Fußballkunst gegen Rudi`s Resterampe. Ich ertappte mich dabei, wie ich erleichtert aufstöhnte, als Olli Kahn in der ersten Halbzeit einen Schuss auf sein Tor unschädlich machte. Ich regte mich zum ersten Mal richtig auf, als Nieto Ramelow vom Platz stellte. Als Bode das 1:0 machte, brüllte ich genau so laut wie alle anderen in der Kneipe vor Begeisterung und nach dem 2:0 feuerte ich den wunderbaren, den einzigartigen Miroslav Klose an. Und seit Oliver Neuvilles Tor gegen Paraguay träume ich vom Finale. Was heißt hier lahmes Spiel. Was heißt hier: Das war mal wieder typisch für Deutschland? Wer wird denn hier nachtragend sein? Ich ganz bestimmt nicht.