Besinnliches zur Weihnachtszeit
Wenn die Nächte länger und die Tage dunkler werden, trübt manch garstiger Gedanke die Vorfreude auf das Weihnachtsfest. Etwa die Vorstellung, nun immerhin bis Anfang Februar eine karge, fußballlose Zeit überstehen zu müssen. Und an langen Winterabenden drängt sich die Frage auf: „Was würde ich machen, wenn ich kein Fußball-Fan wäre?“
Ich kann diese Frage nicht spontan und vor allem korrekt beantworten. Ich bin als Fan sozialisiert worden, und seit mehr als 20 Jahren ist das Westfalenstadion mein Zuhause. Wahrscheinlich habe ich mehr bedeutungsvolle Stunden (glückliche und weniger erheiternde) auf den kahlen Stufen der Südtribüne erlebt als an irgend einem anderen Ort der Welt. Nicht zu reden von den Stunden am Fernseher oder am Radio. Das Leben tickt im Takt des Spielplans. Hochzeit? Nur im Sommer. Kinder? Sollten nach Möglichkeit in der Fußball freien Zeit geboren werden – sonst könnte es Terminstress geben. Ihr wollt mich zu euch einladen? Aber doch nicht samstags!
Aber warum tue ich mir das an? Nach mehr als 20 Jahren als Fan ist es nicht schwierig, den Ausgang eines Spiels bereits nach zehn Minuten zu erahnen. Das Geschehen auf dem Rasen verläuft doch allzu oft nach dem selben Schema: Mannschaft A stürmt und erspielt sich Chancen, die sie auf leichtfertigste Art vergibt, Mannschaft B wird in ihrer Hälfte eingeschnürt – jahrelange Erfahrung lehrt den geneigten Fan, dass Team A das Spiel mit Sicherheit nicht gewinnen wird, wenn nicht spätestens direkt nach der Halbzeit der Führungstreffer fällt. Inzwischen habe ich gelernt, Fußball-Spiele mit einer gewissen äußeren Gelassenheit zu beobachten.
Um so erstaunlicher ist die Tatsache, dass ich dennoch bei jedem Spiel aufs Neue nervös zur Uhr schaue, wüst vor mich hin fluche – egal, ob über vergebene Chancen der Jungs, Fouls des Gegners oder Fehlentscheidungen des Schiris – und immer, immer wieder mit Leib und Seele bei der Sache bin. Jeden Pfostenschuss, jede ausgelassene Großchance des Gegners, nehme ich zwar abgeklärt zur Kenntnis und warte auf unseren Führungstreffer. Doch im Innern brodelt es immer noch. Und selbst wenn es Gesetze gibt, nach denen so ein Fußballspiel in 90 Prozent der Fälle abläuft, bleiben da noch zehn Prozent, und das ist eine ganze Menge.
Wer in seiner Freizeit Spaß haben möchte, darf sich nicht dem stressigen Dasein als Fan hingeben. Leichter gesagt als getan. Ich habe mir ja nicht ausgesucht, Borussia-Fan zu sein. Es gab kein Aha-Erlebnis, keinen Erfolg, auf dessen Welle ich reiten konnte. Wie leicht hatte es mein Klassenkamerad in der Grundschule, der je nach Tabellenstand HSV- oder Bayern-Fan war! Ich war Dortmunder, und das war Ende der 70-er hart. Eine bewusste Entscheidung, von nun an für immer mein Leben nach dem Willen des Spielplans auszurichten, hat es nie gegeben.
Gibt es eigentlich ein Aussteiger-Programm? Mein Vater hat sich mangels Identifikation mit dem Verein vor drei Jahren dazu durchgerungen, seine Dauerkarte abzugeben. Danach ist es mir noch einmal gelungen, ihn ins Stadion zu locken – mit einer Freikarte für Susis Abschiedsspiel. War das ein Schock! Ich hatte vorher schon von Menschen gehört, die irgend wann beschlossen hatten, nicht mehr zum Fußball zu gehen, aber in meinem direkten Umfeld habe ich die Existenz solcher Individuen für völlig abwegig gehalten. Irrtum. Seltsam ist es jedoch, dass auch der Verein keine Anstalten gemacht hat, den verlorenen Sohn zurück in den Schoß der Familie zu lotsen. Seit Menschengedenken hatte mein Vater eine Dauerkarte. Wird das in keiner Datenbank geführt? Werden die in all den Jahren still erlittenen Qualen von langweiligen Heimspielen am Anfang der 80-er Jahre, unnötigen Niederlagen gegen Waldhof Mannheim und einem Relegationsspiel, dass die Nerven der Fans mehr strapaziert hat als alles andere, nicht honoriert?
Wer das legendäre 5:0 gegen Benfica, den ersten Europapokalsieg und den folgenden Niedergang miterlebt hat und irgendwann 1998 beschließt, nicht mehr zum Fußball zu gehen, hat es verdient gefragt zu werden, warum er sich zu dem Schritt durchgerungen hat. Ich gebe zu, dass es unter 45.000 Dauerkarten schwierig sein mag, den Einzelnen Fan als solchen zu erkennen. Aber es gab mal eine Zeit, in der es weniger Dauerkartenbesitzer gab. Hätte man zu der Zeit nicht anfangen können, Buch zu führen? Ich glaube, ich habe seit 1983 eine Dauerkarte. Interessiert das jemanden?
Ins Stadion gehe ich seit etwa 1978. Bis auf den obligatorischen Weihnachtsgruß, der meist mit einem Kaufangebot für Hallenfußball-Karten verbunden war, habe ich nie bemerkt, dass mein Verein Kenntnis von meiner Existenz besitzt.. Natürlich ist das auch nicht nötig, aber wenn Borussia als Unternehmen die Fans als Kunden sieht, dann sollte sich der Verein Gedanken über die Bindung jahrelanger Kunden Gedanken machen. Oder liegen die Geburtsdaten der Dauerkarteninhaber nicht in irgendeiner Datenbank? 45.000 Geburtstagsgrüße kosten inklusive Porto und Briefpapier rund 45.000 Euro im Jahr – die Portokasse sollte das hergeben. Ich will keine Forderung stellen. Ich meine nur, es wäre schön, zumindest die Illusion zu haben, dass der Verein zweimal im Jahr an mich denkt.