Spitzenreiter, Spitzenreiter, hej, hej
Hätten wir `mal lieber nicht gesungen nach dem 1:0: „Spitzenreiter, Spitzenreiter, hej, hej.“ Und schon gar nicht „Deutscher Meister wird nur der BVB.“ Es hätte uns vielleicht bange Minuten des Zitterns erspart. So aber benötigte die Mannschaft erst einmal eine gut halbstündige schöpferische Pause, bis sie sich an den Gedanken gewöhnt hatte, dass sie eine Spitzenmannschaft ist. Als sie soweit war, fertigte sie Eintracht Frankfurt in nur 25 Minuten mit dem höchsten Heimsieg seit Jahren ab und zeigte dabei auch noch feinen Offensiv-Fußball.
Selten dürfte ein Trainer nach einem 6:1-Sieg seiner Mannschaft so angefressen gewirkt haben wie Matthias Sammer auf der Pressekonferenz nach dem Spiel gegen Eintracht Frankfurt. „Nach der rot-gelben Karte für Schur sind wir `rumgerannt wie ein Hühnerhaufen“, teilte er mit immer noch verständnisloser Stimme mit. Dabei habe er seinen Spielern klare Anweisungen gegeben. „Jeder sollte seine Position halten. Jeder sollte einfach weiterspielen. Dann ergeben sich gegen zehn Mann die Räume irgendwann zwangsläufig.“
Dabei hatten die Borussen gar nicht schlecht begonnen. Sie spielten recht engagiert nach vorne und hatten in der ersten halben Stunde einige hochkarätige Chancen zur Führung – seltsamerweise ohne dass das Offensivspiel in dieser Phase tatsächlich überzeugend wirkte. Die Abwehr mit Kohler, Wörns und Oliseh stand gut, doch im Mittelfeld und Angriff konnte man in dieser Phase keine guten Noten verteilen.
Auf der rechten Seite mit Evanilson schien das Spiel überhaupt nicht stattzufinden. Die linke Seite mit Dede und Reina spielte zwar wesentlich engagierter. Vor allem Reina aber war oft zu eigensinnig, spielte nicht ab und rannte sich regelmäßig in der Frankfurter Hintermannschaft fest.
Ricken blieb unauffällig, welche Aufgabe Heinrich zu erfüllen gedachte, blieb ein Rätsel und auch Rosicky wirkte nicht so stark wie zuletzt. Der 20-Jährige hatte zwar die meisten Ballkontakte und den einen oder anderen genialen Moment. Dafür verlor er aber auch etliche Zweikämpfe im Mittelfeld und viele seiner Pässe kamen nicht an – was, wie man gerechterweise sagen muss, zum Teil aber auch an der Unbeweglichkeit seiner Mitspieler lag. Bobic kämpfte und zeigte überraschend, dass er doch mit dem Ball umgehen kann, agierte vor der Pause aber ähnlich unglücklich wie gegen Werder Bremen. Er hatte gleich mehrfach die Chance zur Führung auf Fuß und Kopf, vergab sie aber.
So war es möglicherweise sogar Glück, dass Wörns in der 31. Minute nach einer Rosicky-Ecke heranflog und den Ball vor dem ebenfalls völlig freistehenden Bobic über die Linie köpfte. Eigentlich hätte die Eintracht, die bis dahin gut mitspielte, zu diesem Zeitpunkt schon keine Chance haben dürfen. Nachdem Bobic drei klare Möglichkeiten vergeben und Dede mit einem geschickten Fernschuss den Pfosten getroffen hatte, verloren die Frankfurter auch noch ihren Verteidiger Alexander Schur durch gelb-rote Karte. Schur hatte die erste gelbe Karte nach einem rüden Foul gegen Lars Ricken gesehen. Nachdem er Ricken rund 40 Meter vor dem eigenen Tor am Trikot festhielt blieb Schiedsrichter Kemmling gar nichts anderes übrig, als ihn unter die Dusche zu schicken. Das sah sogar Schurs Übungsleiter Rolf Dohmen so: „Ich habe ihm vorher gesagt, er soll ruhiger spielen. Und dann dieses völlig überflüssige Foul“.
Die Folge war allerdings nicht, dass die Dortmunder in Überzahl versuchten, das Spiel endgültig zu entscheiden. Stattdessen luden die Schwatzgelben die Eintracht zu Kontern ein, die noch vor der Pause erste Chancen verzeichnete – zum Beispiel bei Gebhardts scharf geschossenem Freistoß in der 43. Minute. Unter anderem unterliefen auch dem bis dahin glänzenden Oliseh einige Fehler.
Matthias Sammer zog daraus in der Pause Konsequenzen: Er nahm Reina heraus und brachte mit Nerlinger einen Mann für das defensive Mittelfeld, „um die Mitte dicht zu machen“, wie er nach dem Spiel erläuterte. Reina sei dabei „das Opfer“ gewesen. „Das war etwas ungerecht. Ich habe ihn nicht ausgewechselt weil er schlecht gespielt hat“, versicherte der Trainer.
Erfolg hatte diese Maßnahme jedoch zunächst nicht. Im Gegenteil: In der 48. Minute fiel das 1:1 für die Eintracht durch Chen Yang – allerdings ein etwas unglückliches Tor. Der Schuss des völlig frei stehenden Stürmers wäre weit rechts am Tor vorbei gegangen, wenn ihn Jürgen Kohler nicht mit der Schulter zu einer unhaltbaren Bogenlampe ins eigene Tor abgefälscht hätte.
Was Matthias Sammer viel bedenklicher stimmte, als dieser Glücksschuss: „Yang hätte auch zu mindestens einem frei stehenden Nebenmann passen können – und dass, obwohl wir in Überzahl gespielt haben.“
Danach reagierten die Schwatzgelben erst richtig aufgescheucht und wenn Kryszalowicz, der nur eine Minute später völlig allein auf Laux zulief, nicht am Dortmunder Keeper gescheiterte wäre, wer weiß...
So aber nahmen die Schwatzgelben nach etwa einer Stunde doch wieder das Heft in die Hand und erspielten sich wieder die ersten Chancen. Vor allem Ricken war wesentlich engagierter und leitete den Kantersieg ein.
Beim 2.1 beklagte Eintracht-Trainer Rolf Dohmen allerdings zurecht eine Abseitsposition - die aber keineswegs so klar war, wie er glauben machen wollte. Ricken war in der schnellen Vorwärtsbewegung und bei der Ballabgabe gerade ganz knapp ins Abseits gelaufen. Außerdem befand er sich zu diesem Zeitpunkt noch im passiven Abseits, denn der Pass von Heinrich war eigentlich für Fredi Bobic in der Mitte gedacht, der aber verpasste. Für Schiedsrichter Kemmling und seine Assistenten also nicht leicht zu sehen. „Außerdem sind wir in dieser Saison auch schon oft benachteiligt worden. Im Ganzen gesehen gleicht sich alles wieder aus“, kommentierte Sammer nur lapidar das Lamento seine Kollegen.
Das 3:1 war dafür um so schöner. Nerlinger passte zum endlich wieder treffsicheren Ricken. Der drehte sich um die eigene Achse und schob den Ball souverän ins Eck.
Warum die Eintracht danach versuchte, zu stürmen, statt das Debakel in Grenzen zu halten, weiss möglicherweise die Mannschaft, ganz sicher der liebe Gott, aber nicht ihr Trainer. Dessen Stimmvolumen reichte aber in dem Tollhaus, in das sich das Westfalenstadion verwandelt hatte, nicht mehr aus, um entsprechende Abweisungen zu geben. „Haben Sie mal versucht, gegen 62000 Menschen anzubrüllen“, beschied er eine Frage, warum er nicht eingegriffen habe.
Die Folge: Die Schwatzgelben spielten sich in einen Rausch und hätten die Eintracht bei optimaler Chancenauswertung binnen 20 Minuten mit einer zweistelligen Niederlage zurückgeschickt.
In der 71. Minute markierte Bobic mit einem Abstaubertor das 4:1, nachdem Heinrich nach Rosicky-Ecke nur die Latte getroffen hatte. In der 79. Minute verwertete Addo einen klugen Querpass von Ricken, an dem Bobic knapp vorbeigerutscht war und in der 90. Minute zeigte Bobic endlich einmal, warum ihn die Borussia als Torjäger geholt hat: Mit einem technischen perfekten Schuss hämmerte er den Ball aus 24 Metern genau ins rechte obere Eck. Zwischen den Toren hätte alleine der völlig entfesselte Dede mehrfach die Chance gehabt, das Eintracht-Debakel komplett zu machen. Ein Tor von Addo nach einem Lattentreffer von Dede erkannte Schiedsrichter Kemmling wegen (angeblicher?) Abseitsstellung nicht an.
Unser Fazit: In den letzten 25 Minuten zeigten die Borussen eines ihrer besten Heimspiele seit Jahren, überzeugenden Offensivfußball und tatan auch endlich einmal etwas dafür, dass auch das Torverhältnis einer Spitzenmannschaft würdig ist. Über die Zeit zwischen der 30. und der 60. Minute sollte man lieber nicht noch mehr Worte verlieren.
Die Noten (die alle eine halbe bis eine ganze Note besser ausgefallen wären, wenn diese halbe Stunde nicht gewesen wäre):
Laux (3); Wörns (2), Evanilson (4), Kohler (2,5), Heinrich (4,5), Bobic (2,5), Rosicky (2,5), Reina (4), Oliseh (3,5), Dede (2,5), Ricken (2). Ab 45. Nerlinger (2,5) für Reina; ab 77. Addo (3) für Rosicky, ab 89. Sörensen (-) für Ricken.