Ein Geisterzug nach Nirgendwo
Abfahrt um 20:30 Uhr, Gleis 50, Bahnhof Strobelallee. Das vorletzte Heimspiel der Geistersaison 2019/2020 im Westfalenstadion vor gefühlten 81.360 freien Plätzen.
Es ist der 17. Juni 2020. In den Abteilen des IC 1909 befinden sich in der Zone 1 insgesamt 98 Person. So schreibt es die Task Force Sportmedizin/Sonderspielbetrieb im Profifußball in ihrer Version 2.1 für die statische Personal-Bedarfsplanung im „Innenraum“ vor. Unter ihnen haben auch Mitglieder einer Karnevalsgesellschaft aus Mainz ein Gruppenticket gelöst. Die Stimmung ist angespannt. Mit im Geisterzug sitzt auf dem Schleudersitz das Abstiegsgespenst. Alle informieren sich noch einmal schnell über die Vorgaben von DFB und DFL, die die organisatorischen Vorkehrungen im Stadion betreffen. Was war noch einmal die Zone 1, die Zone 2 und die Zone 3? „Trainer, an welcher Zone müssen wir eigentlich aussteigen und spielen?“, fragt ein verunsicherter Jean-Philippe Mateta seinen Trainer Achim Beierlorzer.
Nachdem die letzten Zweifel beseitigt sind, wird sich schnell umgezogen, damit das Spiel pünktlich beginnen kann. Der SKY-Schaffner strahlt Zufriedenheit aus. Die Spieler betreten das Spielfeld und blicken in das weite Rund. 81.360 freie Plätze? Im Tribünenbereich, kurz auch Zone 2 genannt, sieht man eine Gruppe von Unentwegten. Eine kleine Menge von tapferen Kriegern, entsprechend dem uns bekannten gallischen Dorf, die sich der Pleite des Fußballs entgegenstellt. Dazu gehören beim Kick-off genau 115 Personen. Dies ist auf Seite 14 des Hygienekonzeptes der Task Force Sonderspielbetrieb im Profifußball genau festgelegt. Wenigstens ist somit die Stimmung garantiert. Einige der Anwesenden scheinen jedoch nicht bei der Sache zu sein. Sie zählen Geld oder erarbeiten ein Konzept für weitere Geisterspiele in der kommenden Saison. Manche überlegen aber auch, wo und wie sie in naher Zukunft die 10.000 Zuschauer so unterbringen können, dass alle 81.360 zufrieden sind, Sponsoren natürlich eingeschlossen.
Im Außenbereich des Stadions haben in Zone 3 insgesamt 109 Personen ihre Kopfhörer angelegt und hören BVB-Netradio. Nachdem es bei allen Kameras „Klick“ gemacht hat, kann das Spiel beginnen.
Das Spiel steht unter dem Motto Champions-League-Sympathisant gegen Abstiegsverweigerer und findet unter einem blutroten Himmel der 30. Deutschen Meisterschaft statt. Während Beierlorzer sich als Meister der Rotation zeigt und sechs frische Spieler bringt, wird beim BVB lediglich Akanji vermisst. Für ihn rückt Haaland in die Startelf und Emre Can reiht sich in die Abwehrkette ein. Mainz spielt mit einem 4-4-2 System gegen den Ball und spielt dies sehr diszipliniert. Unsere Jungs wirken nach Balleroberung oft schlampig. In der ersten halben Stunde notiert man nur zwei Strafraumszenen vor Florian Müller. Wenn überhaupt mittelkarätig ist der Schuss von Witsel, der in der 14. Minute abgeblockt wird. Witsel zeichnet sich in dieser Phase insbesondere durch Fehlpässe aus, ist hier aber nicht der einzige der Schwarzgelben. Es kommt es wie es kommen musste – trotz 73% Ballbesitz und 66% gewonnener Zweikämpfe. In der 34. Minute führt der zweite einigermaßen passable Angriff der Gäste zum ersten Narrhalla-Marsch des Spieles. Einer der sechs Newcomer, Jonathan Burkhardt, versenkt nach Vorlage von Newcomer zwei, Baku, mit dem Kopf die Pille im Netz des BVB zur 1:0 Führung. Fast wäre Can in der 35. Minute der direkte Ausgleich gelungen, aber der etwas misslungene Kopfball entwickelt sich zum Rohrkrepierer. Das war es dann auch schon in der ersten Hälfte.
Ein Spiel unserer Jungs ohne Begeisterung. Aber es kommt noch schlimmer. Ist Piszczu beim ersten Tor noch eher ein Beobachter des Abwehrverhaltens, so läutet er die frühzeitige Entscheidung in der 49. Minute ein. Ein durch ihn an Latza verursachter Foulelfmeter gibt Mateta die Chance zum 2:0 und der Franzose bedankt sich mit dem zweiten Narrhalla-Marsch. Das Team von Lucien Favre ist in der Folgezeit von allen guten Geistern verlassen und lebt von wenigen gefährlichen Szenen. Die Offiziellen in Zone 2, unter ihnen Matthias Sammer, wirken mit versteinerten Mienen furchteinflößender als elf Dortmunder Geister, deren Spiel oft zu fehlerhaft ist. Nein, Schrecken können die Gehaltsverzichtler dem Abstiegskandidaten nicht einflößen, und so kommt es zum sechsten Mainzer Auswärtssieg in dieser Saison. Oft sind die elf Karnevalisten gegen Ende des Spieles dem 3:0 näher als unsere Gespenster dem Anschlusstreffer. Nach 90 plus vier Minuten ist es dann zum Glück vorbei.
Ein Geschenk liegt später allerdings noch im Abteil. Ein 2:2 im Spiel der Leipziger gegen die Fortuna aus Düsseldorf. Glück gehabt, auch wenn dieses Remis die Diskussionen um das Erreichen der Saisonziele nicht zum Schweigen bringen wird. Kommt es jetzt doch zum High-End-Relegationsspiel des SV Werder gegen den glorreichen HSV, oder schleichen sich die „Fischköppe“ von der Weser im geisterhaften Nebel direkt mit den Paderbornern aus der Liga?
Für heute ist das Spiel erst einmal aus. Es lebe der Sport und das nächste Heimspiel kommt bestimmt. Aber wohin fährt dieser Geisterzug mit unseren schwarzgelben Geistern? Wird er in Zukunft seine Ziele erreichen, ohne vorher zu entgleisen? Wie werden sich die Ticketpreise entwickeln und welche Überwachungskameras werden am Spielfeld stehen? Wird man neue Züge einsetzen oder nur die alten etwas aufpolieren, um den Schein zu wahren? Wird die Auslastung ausreichen, um am Ende ein positives Geschäftsergebnis zu erzielen? Und was wird mit den Fahrgästen in der 2. Klasse, den Fans? Fragen über Fragen, die nach Antworten suchen. Es bleibt zu hoffen, dass das Milliardengeschäft Profifußball sich nach dieser Krise wenigstens in Teilen neu erfindet. Die Vereine bezeichnen sich gerne als mittelständische Betriebe. Sie sollten in Zukunft auch entsprechend wirtschaften und dafür sorgen, dass nicht nach wenigen Wochen Spielbetriebspause eine ganze Liga pleite ist. Vielleicht muss man doch an vielen Stellen des Fahrbetriebes Züge, Personal und Manager komplett auswechseln. Dies gilt übrigens auch im internationalen Netz. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, aber auch wir als Fans müssen etwas dazu beitragen, um unseren Lieblingssport wieder nachhaltiger zu gestalten. Neben unserem Enthusiasmus muss auch zum Beispiel ein Blick in die Stadt Sialkot im Nordosten von Pakistan erlaubt sein und auf die dortigen Arbeitsbedingungen von Frauen, die für Derbystar und andere die Fußbälle herstellen. Es muss auch nicht jedes Jahr ein neues Trikot sein. Überhaupt erscheint mir das gesamte Merchandising an vielen Stellen vollkommen absurd. Nur wir können dies durch unser Kaufverhalten ändern. Vielleicht eine kleine Chance und ein kleiner Beitrag, um aus dem Geisterzug wieder einen von uns geliebten Fußball-Sonderzug zu machen – diesen natürlich dann als Party-Zug in schwatzgelben Farben.