Abwehrarbeit fängt vorne an – Haaland-Show kaschiert bloß die eklatanten Schwächen
Die Frage nach dem „Mann des Tages“ brauchte man am Samstag eigentlich nicht zu stellen. Natürlich war das Neuzugang Erling Haaland, der innerhalb von 20 Minuten nach seiner Einwechslung einen Dreierpack schnürte und den BVB in Augsburg so vor einem Fehlstart in die Rückrunde bewahrte. Ende gut, alles gut? Mitnichten, denn über weite Strecke der Partie traten altbekannte und eklatante Schwächen im Defensivverhalten auf.
Bei aller Euphorie um den Traumeinstand von Erling Haaland muss man auch konstatieren, dass der BVB in Augsburg die Gegentore 25 – 27 kassierte. Viel zu viel für eine Mannschaft, die vor der Saison offensiv das Ziel „Meisterschaft“ ausgerufen hat. Zum Vergleich: von den Mannschaften in der oberen Tabellenhälfte kassierte bis dato nur die TSG Hoffenheim mehr Gegentore, ebenso viele Gegentore kassierte auch Aufsteiger Union Berlin.
Sucht man die Gründe dafür nur bei den Abwehrspielern, macht man es sich aber zu einfach. Sicherlich läuft Manuel Akanji seit knapp einem Jahr seiner Form hinterher und ist mehr Unsicherheitsfaktor als Stabilisator. Auch Lukasz Piszczek wird nicht jünger und bekommt in Laufduellen mit deutlich jüngeren und schnelleren Gegenspielern Probleme. Dass der zum Hinrunde so starke Dan-Axel Zagadou fehlte, verstärkte die Defensivprobleme zusätzlich.
Gleichwohl müssen in der Diskussion um die Defensivprobleme auch die Offensivakteure in die Verantwortung gezogen werden. Eine spielstarke Mannschaft wie der BVB hat traditionell viel Ballbesitz und steht Gegnern gegenüber, die auf Konterangriffe lauern. Um dicht gestaffelte Defensivreihen zu knacken, sind mitunter auch riskante Pässe und Dribblings wichtig, um Lücken zu reißen und Chancen zu kreieren. Da hier immer die Gefahr von Ballverlusten und Gegenstößen mitschwingt, sollten Konterabsicherung und ein gutes Gegenpressing ebenso wichtige Themen auf der Agenda sein.
Doch gerade bei diesen Punkten krankt es beim BVB schon in der ganzen Saison. Die Mannschaft leistet sich übermäßig viele, leichte Ballverluste, wie Thorgan Hazard am Samstag vor dem 1:0 der Gastgeber. In diesen Fällen wäre aggressives Gegenpressing ein adäquates Gegenmittel, doch gerade hier gehen unsere Offensivakteure häufig allzu zaghaft zu Werke. Auch der direkte Weg nach hinten, das schnelle Nachsetzen wird nicht immer im allerhöchsten Tempo gemacht. Anstatt gegnerische Konter im Keim zu ersticken, lässt man die Gegner häufig in hoher Geschwindigkeit auf das eigene Tor angreifen und die eigenen Verteidiger bei der Abwehrarbeit im Stich.
Die Lösungsmöglichkeiten liegen nicht gerade auf der Hand. Leonardo Balerdi hätte eine Chance anstelle des teilweise indesponierten Manuel Akanji verdient. Auch ein schnelles Comeback von Dan-Axel Zagadou könnte Abhilfe schaffen. Eine dauerhafte Umstellung zurück auf die Viererkette scheint aktuell eher unwahrscheinlich. Die genannten Probleme traten auch in dieser Abwehrformation auf und insbesondere im Offensivbereich scheint sich die Mannschaft im 3-5-2 wohler zu fühlen und kreativer zu agieren.
Ein Umdenken hat vor allem auch in den Köpfen der Spieler stattzufinden. Die Wege im höchsten Tempo müssen nicht nur nach vorne, sondern auch nach hinten gemacht werden. Ein unterbundener Konter, ein abgewehrter Torschuss müssen denselben Pusch geben wie eine gelungene Offensivaktion. Einzelne Spieler dürfen sich nicht zu schade für die Defensivarbeit sein. Gerade hier muss man an die Eigenverantwortung der Spieler appellieren, denn gerade hier können Trainer und Verantwortliche nur bedingt mit Ansprachen und Trainingsarbeit entgegenwirken.
Aktuell erscheint es für mich fraglich, ob sich die aufgeführten Probleme kurzfristig lösen lassen. Die Probleme treten schon allzu chronisch auf. Im Laufe der Saison gab es genug „Schüsse vor den Bug“, die den Spielern zu denken geben sollten. Auch in der Wintervorbereitung fing man sich wieder eine Vielzahl „leichter“ Gegentore. Begreift die Mannschaft nicht schnell, dass zum Erfolg auch harte Defensivarbeit gehört, wird man sich vom Meisterschaftstraum schneller verabschieden als es lieb ist. Wollen wir als BVB-Fans also hoffen, dass sich in diesem Jahr die alte Fußballer-Weisheit nicht bewahrheitet, wonach die Offensive Spiele, aber die Defensive Titel gewinnt. Es sei denn, beim Defensivpatient Borussia tritt akute und unerwartete Besserung auf. Nicht besonders realistisch, aber man wird ja noch träumen dürfen.
21.01.2020, Thomas Schlüter