Ein Jahr Stagnation: Warum Lucien Favre gehen muss
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Borussia Dortmund und Lucien Favre haben sich auseinandergelebt, die Hoffnung auf eine neue Ära des Erfolgs ist in den vergangenen Wochen und Monaten zusehends der tristen Realität gewichen. Wie so oft in Beziehungen, die auf halbem Weg scheitern, gibt es für diese Entwicklung keinen konkreten Auslöser.
Im Gegensatz zu Thomas Tuchel, der sich mit nahezu jedem Spieler und Offiziellen verkracht und durch so manche kolportierte Hinterfotzigkeit ins Abseits gestellt hatte, ließ sich Favre beim BVB nichts zuschulden kommen. Loyal gegenüber seiner Mannschaft, stellte er sich vor die Spieler und lobte etwa einen guten Auftritt in Mailand oder einen gutes Spiel im Derby, das sonst mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemand gesehen haben dürfte. Die anschließende Kritik steckte er mit wesentlich größerem Gleichmut ein, als es bei seinen früheren Stationen der Fall gewesen war, und auch das gefürchtete pampige Auftreten war bislang eher selten zu beobachten. Obwohl ihm in Mailand über weite Strecken des Spiels anzusehen war, wie unwohl er sich in der Coachingzone stehend fühlte, sprang er über seinen Schatten und erteilte seinen Spielern Anweisungen von der Seitenlinie. Favre hat sich für den BVB weiterentwickelt, seine Komfortzone verlassen und in Sphären gewagt, die ihm bislang fremd waren. Auf menschlicher Ebene waren negative Töne aus Mannschaft oder Funktionärskreisen bislang eher selten bis gar nicht zu vernehmen.
Dennoch ist die Distanz zwischen Trainer, Mannschaft, Fans und Offiziellen über die vergangenen Monate gewachsen, ist das Schweigen aus der Geschäftsstelle in der Trainerfrage enorm laut zu hören. Denn Favre hat genau das geliefert, was im Vorfeld seiner Verpflichtung von ihm erwartet worden war: ein mit großem Sachverstand, akribischer Vorbereitung und konsequenter Sturheit umgesetztes Spiel, das mit einem perfekt auf seine taktischen Vorstellungen abgestimmten Kader mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Gewinn der Deutschen Meisterschaft, vielleicht sogar zu regelmäßigen Achtungserfolgen auf europäischer Ebene führen würde.
Dass der Favre zur Verfügung stehende Kader auch nach anderthalb Jahren nicht mit diesem Ansatz kompatibel erscheint, muss schmerzen und ist dem Schweizer nur bedingt anzulasten. Auch lässt sich den Spielern wohl kein Vorwurf machen, die Ideen des Trainers nicht umzusetzen – der Versuch ist so gut wie immer erkennbar, am Erfolg der Umsetzung hapert es jedoch erheblich. Dies mag eine Folge von Abstimmungsproblemen oder Befindlichkeiten sein, weil Spieler sich in ihren vorgesehenen Rollen nicht wohlfühlen. Möglicherweise liegt es auch am zögerlichen und wenig kommunikativen Auftreten des Trainers, das nicht bei jedem auf ungeteilte Begeisterung stößt, wie hinter vorgehaltener Hand zu erfahren ist. Besserung scheint jedenfalls auf beiden Baustellen nicht in Sicht: einerseits zeigte die Sommerpause, wie stark Transferphasen derzeit von englischen Gegebenheiten abhängen und welche Gewichte selbst ein Rekordmeister beim gewünschten Kaderumbau zu stemmen hat, andererseits wird sich ein 61-jähriger Kauz selbst bei größter Mühe nicht mehr in ein 30-jähriges Goldkehlchen verwandeln.
So ist ein Zeitpunkt gekommen, sich ehrlich in die Augen zu sehen und festzustellen, dass Borussia Dortmund und Lucien Favre nicht wie erhofft zusammenpassen. Kein Spieler konnte in den vergangenen 12 Monaten einen Schritt nach vorne machen, seine Form verbessern oder sich dauerhaft aufdrängen. In den rund 50 Spielen, die in Bundesliga, Champions League, DFB-Pokal und Vorbereitung in diesen Zeitraum fielen, ließen sich gute oder sehr gute Leistungen an kaum mehr als zwei Händen abzählen. Weder ist dem BVB eine Saison zuzumuten, in der sich der elend teure und qualitativ hochwertige Kader durch sämtliche Wettbewerbe quält, um Favres Lieblingsfußball in immer neuen Anläufen nicht mit dem entsprechenden Erfolg umsetzen zu können. Noch wäre es gegenüber dem Trainer fair, ihn mit Blick auf den Kader zu einem Fußball zu zwingen, der all seinen Vorstellungen vom guten Spiel zuwiderläuft und hinter dem er nicht aus Überzeugung stehen könnte. Und ja: es ist an dieser Stelle einfacher den Trainer auszutauschen, als die gesamte Mannschaft umzubauen.
Dass die Situation in Bundesliga und Champions League, wo sich der BVB nach wie vor in Schlagdistanz befindet, noch längst nicht so verfahren ist, wie es dem Stimmungsbild nach zu vermuten wäre, ist dabei eine ebenso glückliche Fügung wie wichtige Feststellung. Weil die direkten Konkurrenten patzten und mit eigenen Problemen zu kämpfen haben, reichen zwei Siege in München und zuhause gegen Inter Mailand bereits aus, um den selbst gesteckten Zielen ein großes Stück näher zu kommen und mit etwas Glück in Bundesliga wie Champions League sogar die Tabellenführung zu übernehmen. Dass diese Siege im jetzigen Trott auch eingefahren werden, scheint allerdings kaum realistisch. Eher steht in München die nächste Schlappe mit fünf oder mehr Gegentreffern sowie ein Kontersieg extrem tiefstehender Mailänder zu befürchten, die Verein und Umfeld nach einem wenig erfreulichen Spiel im DFB-Pokal bereits im November vor einen Scherbenhaufen stellen werden. Ein frischer Impuls vor diesen Spielen, der die negative Grundstimmung vertreibt und neue Kräfte freisetzt, wäre dringend nötig.
Bleibt die Frage, wie es weitergehen sollte? Zunächst einmal sollte die Geschäftsführung bei der Verpflichtung eines neuen Cheftrainers auf Schnellschüsse verzichten, sich aber auch – ebenso wie Fans und Medienvertreter – von der Vorstellung lösen, eine eierlegende Wollmilchsau zu finden. Es war nicht zuletzt die seitens der Geschäftsführung betriebene Überhöhung Favres zum absoluten Wunschtrainer, die erst Peter Bosz zur zweiten Wahl degradierte, anschließend aber eine enorme Fallhöhe aufbaute, die sich durch die nun getätigten Aussagen Aki Watzkes, eigentlich habe er vor Favres Verpflichtung doch lieber Jürgen Klopp haben wollen, zur schallenden Ohrfeige entwickelte. Stellen wir doch eines nüchtern fest: Die erfolgreichsten Trainer der Welt stehen nicht Schlange und träumen von einem Job im Ruhrgebiet. Sollte einer von ihnen den Weg nach Dortmund finden, werden sicherlich Gehaltsforderungen im Raum stehen, die jegliche bisherige Schmerzgrenze locker pulverisieren. Ist man dazu nicht bereit, wird man einen Trainer finden müssen, der das Anforderungsprofil entweder nicht voll erfüllt (was über entsprechende Unterstützung aufzufangen wäre) oder noch am Anfang seiner Karriere steht, die volle und nicht durch Sentimentalitäten getrübte Rückendeckung der Geschäftsführung aber umso nötiger hätte.
Immerhin scheint das Anforderungsprofil klar: Borussia Dortmund benötigt einen Trainer (oder ein Team), der die Mannschaft mitreißt, das Umfeld wachrüttelt und das Stadion als 12. Mann wieder mit ins Boot holt. Der Trainer muss die Philosophie des BVB, die es schleunigst zu schärfen gilt, mit Leben füllen und einen Fußball spielen, der neben einer Hand voll gestandenen Profis vor allem auf Talente setzt und Leidenschaft vermittelt. Er muss ausreichend stark in der Öffentlichkeit stehen und robust genug sein, um Druck von einer jungen Mannschaft nehmen, im Zweifel allein in der Schusslinie stehen und Themen setzen zu können. Er muss glaubhaft vermitteln, dass er Derbys versteht und mit aller Macht gewinnen will, sich weniger für die Stärke der Gegner als für den Siegeswillen seiner Mannschaft interessiert und sich lieber im Nachhinein für einen Fehler entschuldigt, als vor jeder Entscheidung um Erlaubnis zu fragen. Nicht zuletzt muss er Taktik, Fußballidee und Außendarstellung an den Gegebenheiten Borussia Dortmunds ausrichten (nicht umgekehrt!), was einen schüchternen Mann der leisen Töne in einem tendenziell rauen Umfeld eher ausschließen dürfte.
Eine erste Aufgabe würde neben einer taktischen Umstellung entsprechend der Stärken des Kaders darin bestehen, der Geschäftsführung teure Sentimentalitäten auszutreiben und mit einer ordentlichen Portion Selbstbewusstsein klare Schnitte zu vollziehen. Ein Spieler wie Mario Götze, der dem BVB 2013 die rote Karte zeigte, nach seiner Rückkehr nahezu alles schuldig blieb und nach einem halben Jahr ordentlicher Leistung prompt ein Angebot zur Vertragsverlängerung ausschlug, sollte sein Phantasiegehalt zukünftig gerne von einem chinesischen oder arabischen Club (wahlweise: Unterwäschehersteller) entgegennehmen dürfen. Spieler wie Raphael Guerreiro, Dan-Axel Zagadou, Mahmoud Dahoud oder Jacob Bruun Larsen schöpfen ihr Potenzial seit geraumer Zeit nicht aus: wie viel Geduld und Verständnis hätten diese Spieler bei einem Club wie dem FC Bayern zu erwarten? Käme irgendjemand an der Säbener Straße ernsthaft auf die Idee, Spielern mit stagnierender oder rückläufiger Entwicklung eine Vertragsverlängerung anzubieten? Auch ein Spieler wie Marcel Schmelzer sollte sein Dasein nicht als Maskottchen auf Bank oder Tribüne fristen, wenn es sportlich nicht mehr reicht. Hier gälte es eine ernsthafte Aufgabe (nicht Alibifunktion!) zu finden, um eine wichtige Identifikationsfigur für Mannschaft und Fans dauerhaft für den Verein glänzen zu lassen.
Alles in allem steht der BVB vor einigen Herausforderungen. Die derzeitige Tabellensituation ist sicherlich die kleinste, die sportliche Entwicklung der vergangenen 12 Monate wohl aber die größte. Mannschaft und Trainer harmonieren nicht in einer Weise miteinander, wie es für eine ernsthafte Titelchance in Bundesliga, DFB-Pokal oder Champions League nötig wäre. Favre ist kein Stinkstiefel und hat auch keine silbernen Löffel geklaut, doch seine Idealvorstellung von Fußball ist offensichtlich nicht mit diesem Kader zusammenzuführen: ein Abschied in Freundschaft ist möglich und für beide Seiten nicht die schlechteste Option. Um wieder zu einer dauerhaften Lösung zu finden, gilt es nicht nur die Nadel im Heuhaufen zu finden und im Zweifel tief in die Schatulle zu greifen, sondern auch alte Zöpfe abzuschneiden. Schon das eingesparte Gehalt eines Mario Götze würde helfen, selbst irre Gehaltsvorstellungen eines Weltklassetrainers zu finanzieren.
Mit Unterstützung von Phil.