Magisch.
Manchmal gibt es diese Tage und Abende, an denen man sich doch heimlich fragt, warum man sich das alles antut. Ekliges Wetter, kalt, einen langen Arbeitstag in den Knochen, längere Anfahrt mit dem Auto und voraussichtlich auch eher ziemlich spät wieder im Bett und dementsprechend auch am nächsten Tag noch Nachwirkungen. Und das alles für 90 Minuten Fußball. Dienstagabend gegen 21.45 Uhr dürfte vielleicht der eine oder andere über diese Dinge nachgedacht und sich geärgert haben, weil man für DIESEN Fußball in das Westfalenstadion gefahren ist. 0:2 zu Hause zurück gegen Inter Mailand, der BVB verabschiedet sich gedanklich schon aus der Gruppenphase der Champions League. Und dann, gute 45 Minuten später, steht die Welt auf einmal wieder Kopf und man weiß genau, warum man sich das alles antut. Weil Fußball verdammt noch mal geil ist. Weil diese Mannschaft in schwarz und gelb die Sterne vom Himmel spielen kann. Weil das Westfalenstadion Spiele gewinnen kann. Weil Borussia Dortmund dieses Spiel mit 3:2 gewinnt und damit das Tor zum Achtelfinale wieder ein Stück öffnet. Weil es einer dieser magischen Abende ist, weswegen man überhaupt erst Fußballfan geworden ist. Doch der Reihe nach…
Rund um das Westfalenstadion war es schon lange vor dem Spiel ordentlich voll auf den Straßen, die ersten negativen Gedanken keimten vielleicht sogar schon auf. Der BVB hatte im Vorfeld geraten, möglichst frühzeitig anzureisen, was für arbeitnehmende Fans aus dem näheren und weiteren Umland aber natürlich nicht so einfach zu bewerkstelligen ist. Da half dann auch die spontan ausgerufene Happy Hour, bei der es zwei Speisen oder Getränke zum Preis von einem geben sollte, nur wenig. Dazu kam dann noch das „Kontra K“-Konzert in der Westfalenhalle, das um 20 Uhr begann und für weitere gefüllte Straßen sorgte. Dies merkte man dann auch auf der Südtribüne, die sich selbst eine Viertelstunde vor Anpfiff nur spärlich füllte.
Wie in den letzten Wochen rotierte Favre im Vergleich zum Erfolg gegen die Wölfe auf einigen Positionen. Roman Bürki ersetzte den zuletzt starken Marwin Hitz, der aber aufgrund von Rückenproblemen auch gar nicht im Kader stand. Marco Reus wurde nicht rechtzeitig fit, weswegen Sancho auf den Außen dribbeln sollte. Hakimi rückte wieder nach hinten, Schulz kam für Guerreiro in die Startelf und Götze bekam den Vorzug vor Paco Alcacer, der erneut nur Einwechselkandidat war. Dies mutet zumindest komisch an, sollte der Spanier doch eigentlich in der Lage sein, mal wieder über eine längere Zeit gehen zu können. Genauso unrealistisch dürfte aber auch sein, dass Lucien Favre nach Wochen der Nicht-Berücksichtigung auf einmal tierischen Bock auf Mario Götze bekommen hat und er deswegen auf Pacos Torinstinkt verzichten wollte. Die gleichzeitige Abwesenheit von Reus und Piszczek führte am Ende auch dazu, dass Mats Hummels mal wieder die Kapitänsbinde übernahm. Axel Witsel ersetzte im Vergleich zum Samstag Mo Dahoud im zentralen Mittelfeld.
Dadurch, dass Barcelona bei Slavia Prag nicht über ein torloses Unentschieden hinaus kam, gestaltete sich die Tabellensituation vor der Begegnung mit den Italienern durchaus wieder ein positiver. Oder um es anders zu sagen: mit einem Heimsieg wäre die Borussia wieder richtig dick im Geschäft, wenn es um das Überwintern in der Champions League geht. Und so startete der Fußballabend dann recht euphorisch und optimistisch, auch dank der sehenswerten Choreographie der Desperados, die ihren 20. Geburtstag gebührend feierten und damit auch stimmungstechnisch für eine gute Einstimmung auf die Partie sorgten. Retrospektiv offenbarte der Flyer zur Choreo durchaus auch für prophetische Kräfte, wünschten die DES dem Dortmunder Anhang darin doch einen „magischen“ Abend – er sollte ihn bekommen.
Die erste Hälfte - vorne okay, hinten nicht
Nach nur sechs Minuten erhielt die Stimmung jedoch einen kräftigen Dämpfer: Nach einem langen Ball bestätigte Manuel Akanji seine seit einigen Wochen schwache Form, weil er den Ball unterlief und Lautaro Martinez‘ Sololauf damit den Weg ebnete. Dem Argentinier folgte zwar Mats Hummels, der jedoch aus einer Mischung aus Langsamkeit und Angst vor einem Platzverweis nichts mehr ausrichten konnte, Weigl lief genauso ins Leere wie Bürki und Hakimi und so stand es bereits nach wenigen Zeigerumdrehungen 0:1. Der frühe Rückstand dürfte dabei so ziemlich der Worst Case gewesen sein, da der BVB mit einer Niederlage wohl tatsächlich keine großen Hoffnungen auf das Achtelfinale mehr gehabt hätte und bei vielen Fans Erinnerungen an das Hinspiel wach wurden, als der BVB nach dem Rückstand vor allem offensiv nichts mehr auf den Rasen brachte.
Dies gestaltete sich dieses Mal aber ein wenig anders, denn offensiv sah es auch in der ersten Hälfte gar nicht so übel aus, was der Ballspielverein versuchte. Klar, das 0:1 spielte Inter natürlich in die Karten, konnten sich die Italiener fortan defensiv mit einigen Leuten hinter dem Ball positionieren und mit Kontern auf die schnellen Angreifer gefährliche Nadelstiche setzen, auch weil der BVB in der Abwehr viele Mängel offenbarte. Viel zu oft standen die Nerrazurri zu frei, wie beispielsweise Lukaku, der in der 23. Minute nur den Pfosten traf. Hier lag der Grund für die schlechte Positionierung der Dortmunder zugegebenermaßen in der Abseitsstellung des bulligen Angreifers, es war jedoch nicht die einzige dieser Szenen. Offensiv hatte sich der BVB in der Folge eigentlich berappelt. Götze hatte nach 18 Minuten beispielsweise den Ausgleich auf dem Fuß, nachdem Brandt mit einer klugen Ballverlagerung Hakimi auf rechts fand, der wiederum Götze in Szene setzte. Aus rund elf Metern hätte Götze hier sicherlich mehr rausholen können, die Nummer 10 brachte den Ball aber zu zentral auf den Kasten von Handanovic, der das 1:1 verhinderte.
Nach dem schnellen Rückstand, den Experten ja gerne als einen von mehreren „psychologisch ungünstigen“ Zeitpunkten bezeichnen, gab es kurz vor der Pause den zweiten Nackenschlag für die Borussia, weil Inter sämtliche Defensivschwächen der Dortmunder in einer Szene offenlegte. Martinez öffnender genialer langer Ball fand Candreva auf der rechten Seite, der erneut nur Dortmunder Geleitschutz bekam und ungestört den ebenso mutterseelenallein stehenden Vecino fand, der keine Probleme mehr hatte, die Dortmunder Träume augenscheinlich früh beendete. Weiterer Pessimismus folgte, weil Sanchos beste Szene am Ende auch nicht in einem Treffer resultierte, sondern von Handanovic entschärft wurde.
Und so war die Stimmung in der Pause allenorts angefressen. Auf der Tribüne und auf Social Media griffen wieder die bekannten Automatismen. Es wurde gemurrt und gegrummelt, Brandt müsse doch ausgewechselt werden, Paco Alcacer hätte direkt starten sollen und Lucien Favre müsse ohnehin abgesägt werden. Es lief darauf hinaus, dass es einer dieser Abende wird, die man besser wieder aus der eigenen Erinnerung löschen sollte. Glücklicherweise gehören zu einem Fußballspiel aber immer zwei Halbzeiten, sodass die vielen Kritiker Lügen gestraft wurden. Was Lucien Favre in der Kabine seiner Mannschaft verabreicht hat, dürfte aber wohl ein Geheimnis bleiben.
Die zweite Hälfte - the dark and yellow knight rises
Jedenfalls kam sie komplett verändert aus der Kabine und fand direkt schnell zurück in die Partie, weil man sich auf die eigenen Tugenden, wie Kombinationsstärke, konzentrierte. Julian Brandt nahm einen schwer zu nehmenden Ball auf der linken Außenbahn schön herunter und leitete ihn in die Mitte, wo er über Hummels und Götze schließlich in der Mitte bei Achraf Hakimi landete, der bei seinem Torabschluss ein wenig Glück brauchte, den BVB mit dem 1:2 aber zurück ins Spiel brachte. „Wer auch sonst?“, war überall zu hören, war Hakimi zu diesem Zeitpunkt doch der einzige Dortmunder Torschütze im Wettbewerb.
Zusammen mit der Dortmunder Mannschaft wachte auch das Westfalenstadion auf, das schon zu merken schien, dass die Messe an diesem Abend noch lange nicht gelesen sein sollte. Durch den frühen Anschlusstreffer und die weiter attackierenden Dortmunder, die durch Brandt (53.) und Witsel (55.) fast den unmittelbaren Ausgleich erzielten, sprang der Funke auf sämtliche Tribünen des ausverkauften Stadions über. Auf der Südtribüne stieg die Mitmachquote merklich und auch die Sitzplätze standen auf, um die weiter aufspielenden Dortmunder nach vorne zu peitschen. Und das wiederum beflügelte schließlich auch den BVB-Angriff, der sich durch Hazard (60.) und Götze (62.) weiter herantastete. Zu diesem Zeitpunkt gab es schwatzgelbe Chancen im Minutentakt und Lucien Favre brachte Paco Alcacer, dürfte aber selbst überrascht gewesen sein, dass dieser Wechsel sich sofort und so schnell auszahlte. Mit seinem ersten Ballkontakt spitzelte Alcacer einen Einwurf der Mailänder am eigenen Strafraum zu Brandt, der in den Strafraum zog und den Ball ins lange Eck schob. Spätestens jetzt gab es kein Halten mehr, auch für Stadionsprecher Norbert Dickel, der direkt los eskalierte und gar nicht mehr das Ende der Torhymne abwartete. Das Westfalenstadion stand Kopf. Aber es wollte mehr. Weder die Tribünen noch die Mannschaft gaben sich mit dem Unentschieden zufrieden und eigentlich konnte man auch fühlen, dass der BVB dieses Spiel als Sieger verlassen würde. Zwar reduzierte sich die Chancenfrequenz ein wenig, Witsels Kopfball nach 68 Minuten wäre aber auch schon fast im Netz gelandet. So dauerte es bis zur 78. Minute bis zum kompletten Freudentaumel, als Hakimi eine Doppelpass-Kombination mit Sancho vollendete und das Westfalenstadion zum Beben brachte. Der BVB hatte es tatsächlich zustande gebracht, dieses nach 45 Minuten schon verloren geglaubte Spiel komplett auf den Kopf zu stellen und am Ende vollkommen verdient zu drehen und zu gewinnen. Es folgte zwar noch ein wenig Zittern bis zum Abpfiff, zu Chancen kamen die Italiener während der zweiten Hälfte aber nicht mehr.
Und so stand am Ende ein absolut magischer Abend. Die Mannschaft wurde vollkommen zurecht für diese wundersame Leistungssteigerung gefeiert, auch wenn sich gleichzeitig noch von den Tribünen gewünscht wurde, dass man doch auch den Bayern die Lederhosen ausziehen solle. Der BVB hat das Überwintern in der Champions League selbst in der Hand. Ein Punktgewinn in Barcelona und ein Heimsieg gegen Slavia Prag wären schon der garantierte Einzug in das Achtelfinale und das in einer Gruppe, die mit renommierten Namen gespickt war.
Und deswegen, liebe Unwissenden, fährt man dann eben doch noch an einem kalten, nassen Abend, nach einem langen Arbeitstag und trotz später Rückkehr, gerne zum Ballspielverein. Weil eben immer das Potential eines magischen Abends da ist. Eines Abends, an den man vermutlich recht gerne noch häufig zurückdenken wird.
Statistik
Borussia Dortmund: Bürki - Hakimi, Akanji, Hummels, Schulz - Weigl, Witsel - Sancho (82. Piszczek), Brandt, Hazard (88. Guerreiro) - Götze (64. Alcacer)
Inter Mailand: Handanovic - Godin, de Vrij, Skriniar - Brozovic, Candreva, Vecino (68. Sensi), Barella, Biraghi (66. Lazaro) - Lukaku (73. Politano), Martinez
Tore: 0:1 Martinez (6.), 0:2 Vecino (40.), 1:2 Hakimi (51.), 2:2 Brandt (64.), 3:2 Hakimi (77.)
Gelbe Karten: Hazard - Skriniar, Candreva, Biraghi
Schiedsrichter: Makkelie (Niederlande)
Zuschauer: 66.099 (ausverkauftes Westfalenstadion)