Spielbericht Profis

Ist das noch Mentalität oder schon was Ernstes?

29.09.2019, 11:44 Uhr von:  Michael
Ist das noch Mentalität oder schon was Ernstes?
Nach dem Spiel in Frankfurt gab es auch gestern nur ein 2:2

Fußball, so heißt es, ist ein einfaches Spiel. Ein Ball, zwei Tore, 22 SpielerInnen. Fertig. Na gut, Abseits, eine unverständliche Handregel, der VAR und Pep Guardiolas Taktikerklärungen verkomplizieren das Spiel manchmal, aber insgesamt: einfaches Prinzip.

Und ein einfaches Spiel muss auch einfach zu erklären sein. So war es nach dem Spiel letzte Woche schnell klar: keine Mentalität. Die Spieler müssen einfach mehr wollen, dann gewinnen wir auch.

Dazu eine Statistik:

Nur drei Teams gaben im Jahr 2019 noch mehr Punkte nach eigener Führung ab, als der BVB. Klares Ding. Keine Mentalität. Sollen gefällig den Arsch hochkriegen.

Noch eine Statistik:

Nur der VfL Wolfsburg holte im Jahr 2019 mehr Punkte nach eigenem Rückstand als der BVB. Wahnsinn. Mentalitätsmonster. So mag es der Fan.

Es ist also alles nur auf dem ersten Blick einfach. Warum es auf den zweiten Blick tatsächlich etwas ernster ist, zeigte das gestrige Spiel in ganzer Traurigkeit.

Die Aufstellung

Die Unterstützung war wie schon gegen Leverkusen ordentlich

Favre rotierte mehr als erwartet. Für den verletzten Hummels rückte Weigl in die Innenverteidigung. Ein nicht ganz überraschender Wechsel, leider aber auch wieder ein deutlicher Fingerzeig an Zagadou und Balerdi.

Rechts rückte Lukasz Piszczek wieder in die erste Elf, Hakimi musste auf links ausweichen.

Eine große Überraschung gab es im Mittelfeld. Mo Dahoud bildete mit Axel Witsel die Zentrale. Und auch vorne gab es Neuigkeiten: Paco Alcácer rotierte raus, Mario Götze besetzte die Spitze.

Die erste Halbzeit

Mario Götze und Marco Reus drehten die Partie mit Kopfballtreffern

Der BVB begann engagiert und lag trotzdem schnell mit 0:1 hinten. Axel Witsel verlor im Mittelfeld unnötig den Zweikampf mit Klaassen, der die Situation blitzschnell erfasste und Rashica in Szene setzte. Dieser hatte wenig Mühe zu vollenden. Der BVB hingegen ließ sich überhaupt nicht beirren und zog sein bekanntes Spiel auf. Mit Erfolg. Die Bremer Führung hatte keine zwei Minuten Bestand, da köpfte Götze nach schöner Piszczek-Flanke den Ausgleich. Und noch vor der Pause war es Reus, der ebenfalls per Kopf das Spiel drehte. Dazu gab es noch einige gute weitere Chancen, die beste durch Dahoud, der Sekunden vor dem Pausenpfiff an einer überragenden Fußabwehr Pavlenkas scheiterte.

Apropos Dahoud: die Hereinnahme hatte sich definitiv gelohnt. Immer wieder kurbelte er das Spiel an, schaltete sich in die Kombinationen der Offensive ein und half defensiv mit aus. Die meisten Torabschlüsse, die meisten Torschussvorlagen und die zweitbeste Dortmunder Zweikampfstatistik unterstrichen die Leistung Dahouds in der ersten Halbzeit. Auch Mario Götze zeigte, dass er weiter ein wichtiger Faktor sein kann. Seine Mitarbeit im Kombinationsspiel ist deutlich ausgeprägter, als die Alcácers, auch wenn der Torinstinkt des Spaniers natürlich unschlagbar ist.

Davy Klaasen gegen Thorgan Hazard

Und Werder? Kam nur selten nach vorne und doch wurde es immer wieder brenzlig. Die defensive Sicherheit geht dem BVB weiter ab. Eklatant auffällig dabei ist, dass Defensivzweikämpfe nur dann geführt werden, wenn es wirklich nicht anders mehr geht. Stattdessen wird der Gegner begleitet, bis er den Ball weitergibt. Natürlich hat dieses „Stellen“ des Gegners Vorteile. Freistöße werden vermieden, der Gegner kann den Verteidiger weniger leicht ausspielen, aber im Gegenzug machen die BVB-Verteidiger es den gegnerischen Angreifern auch sehr bequem. Der Ball kann in Ruhe angenommen und verarbeitet werden, eventuelle Störungen durch Dortmunder Abwehrbeine treten nur in homöopathischen Dosen auf. Ob diese passive Art des Verteidigens vom Trainerteam vorgegeben ist oder von der Mannschaft kommt, ist mir nicht bekannt, etwas mehr Biss wäre aber dringend wünschenswert.

Die zweite Halbzeit

Begann eigentlich so, wie die erste endete. Der BVB ließ den Ball laufen, kam zu der ein oder anderen gefährlichen Situation und dann stand es plötzlich 2:2. Erneut leitete ein individueller Fehler die Situation ein. Sanchos Fehlpass führte zur Bremer Schussgelegenheit, die Piszczek in höchster Not zur Ecke blockte. Was folgte, war ein Musterbeispiel für die derzeitige Dortmunder Defensivlage. Der Ball wurde an den zweiten Pfosten verlängert, wo drei (in Worten: drei, in Zahlen: auch drei) Bremer freistanden und Friedl ihn locker versenken konnte.

Nun kann es jedem Mal passieren, dass man kurz einnickt und was wichtiges verpasst, aber das was da ablief, war ein veritabler Winterschlaf der halben Mannschaft.

Der BVB reagierte wie in der ersten Halbzeit. Also gar nicht. Er zog einfach weiter sein Spiel durch und erarbeitete sich einige gute Chancen, die ungenutzt verstrichen.

Lukasz Piszczek gegen Christian Groß

Favre reagierte und brachte Brandt und Alcácer für die Aktivposten Götze und Dahoud. So ganz nachvollziehbar waren die Wechsel nicht, eine Auswechslung des schwachen (es sei ihm absolut verziehen) Sanchos oder auch des erneut nicht übermäßig glücklich agierenden Reus wären nachvollziehbarer gewesen.

Besonders Dahoud hinterließ eine Lücke im Zentralen Mittelfeld, die Brandt defensiv überhaupt nicht stopfen konnte. Glück für den BVB, das Werder diese Freiräume nicht ausnutzte.

Offensiv war Brandt und Alcácer zumindest die letzte Offensivaktion des Spiels vorbehalten, doch das Happy End blieb aus, als Paco Brandts Vorlage aus 11 Metern knapp über das Tor setzte. Es blieb beim 2:2 und der BVB hatte wieder zwei Punkte verloren.

War es denn jetzt die Mentalität?

Es wird grundsätzlich keinem Bundesligaspieler egal sein, ob er ein Spiel gewinnt. Wer Hakimi nach dem Spiel beobachtet hat, der sah, dass dieser maximal frustriert war. Und auch die Reaktion nach dem frühen Rückstand und nach dem Ausgleich spricht nicht dafür, dass es einfach am „Mehrwollen“ lag.

Der BVB 2019 hat ein viel größeres Problem: er hat ein Konzept. Aber leider nur eins. Dieses Konzept beruht auf maximaler Spielfeldkontrolle. Den Gegner nicht in gefährliche Zonen kommen lassen, mäßiges Anlaufen, lange Ballzirkulation auf die Außen, die mit einer Flanke aus dem Halbfeld oder einem Pass von der Grundlinie enden. Das führt zwar auch zu der einen oder anderen Torchance, lässt sich aber durch eine enge Staffelung der Abwehr gut verteidigen. Gefahr kommt in der Regel nur dann auf, wenn die Techniker vorne ihre individuellen Stärken ausspielen.

Ist das System von Lucien Favre zu eindimensional?

Der BVB ist mittlerweile so eindimensional in seinem Spielkonzept, dass der Spielstand egal ist, man spielt einfach den geplanten Stiefel herunter. Das führt auf der einen Seite zu der positiven Situation, dass auch Gegentore nicht zu einer „Panikreaktion“ führen, auf der anderen Seite ist der BVB nicht in der Lage, nach einem Führungstor einen angeschlagenen Gegner auszuknocken. Die Möglichkeit, nach einem Tor die Verunsicherung des Gegners zu nutzen, direkt das Spiel an sich zu reißen, hoch zu pressen, den Gegner zu Fehlern zwingen, wird fast immer leichtfertig vergeben. Dazu reißt das kontrollierte Spiel die Zuschauer nicht vom Hocker. Auch hier wird die Euphorie nach dem Tor nicht mitgenommen.

Neben der allseits bekannten Mentalität gibt es noch ein weiteres gerne bemühtes Wort mit „M“. Das Momentum. Jeder der wettbewerbsmäßig Fußball gespielt hat, kennt die Situation. Man führt 2:0, hat alles unter Kontrolle und aus dem Nichts fällt der Anschluss. Und plötzlich kippt das Spiel. Die gegnerischen Fans haben plötzlich Oberwasser, die eigenen Fans werden unruhig. Der Gegner bekommt die zweite Luft, die eigenen Nerven zerfallen zu Staub. Das „Momentum“ liegt auf Seiten des Gegners. Und beim BVB? Der lässt dem Gegner nach dem Tor in Ruhe die Zeit, sich wieder zu sortieren.

Fazit

Am Ende war es wohl ein gerechtes Untentschieden, das Nuri und Co. mehr weiterhilft

Dem BVB fehlen derzeit die Möglichkeiten, das „Momentum“ auf seine Seite zu ziehen. Stattdessen wird stets das gleiche Spielkonzept verfolgt. Erschwert wird das Konzept noch durch die derzeitige Formschwäche von Reus und Sancho. Nehmen wir nun die defensiven Fehler des BVB hinzu, so lautet die Taktik für den Gegner: Mach hinten dicht und lauere vorne auf Fehler.

Wer es anders macht (Hallo Peter Bosz!), dem BVB vorne den Platz für das Umschaltspiel gibt, wird dann gnadenlos auseinandergenommen.

Der BVB braucht dringend einen Plan B und C. Andere taktische Varianten, andere Spielmuster, Überraschungselemente, die nicht nur auf den individuellen Stärken Einzelner beruhen. Er braucht Möglichkeiten, ein Spiel an sich zu reißen. Die Statik, das „Momentum“, auf die eigene Seite zu ziehen. Die Verunsicherung des Gegners erkennen und Kapital daraus schlagen. Verantwortlich ist hierfür das Trainerteam. Nun kann Lucien Favre zeigen, dass er sich nicht nur akribisch auf Gegner vorbereitet, sondern auch in der Lage ist, während des Spiels die Taktik auf die jeweilige Situation anzupassen. Sollte das nicht in den nächsten Wochen gelingen, könnte es einen stürmischen Herbst in Dortmund geben. Und dann ist Mentalität das kleinste Problem.

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