Sie müssen mir jetzt genau zuhören, Lucien!
Als der Anruf kam, war sowieso schon klar, dass es nicht mehr lange geht. Samstag, 17.13 Uhr. Durch die Feiergeräusche aus dem Norden des Westfalenstadions drang eine besorgte Stimme. „Dembo! Wir brauchen Dich!“ Es war nicht, was ich hören wollte.
Der Tag hatte gut angefangen. Ich hatte mich, wie man so sagt, in meinem neuen Leben eingerichtet. Zur großen Derby-Feier mit Tippspiel eingeladen. Wer nicht 9:0 für den Ballspielverein tippte, war sofort raus aus der Verlosung. Ich blieb allein. Aber das war egal. Wir hörten The Highwayman, saßen in der Sonne, tranken Schulle und genossen die weite Sicht hier im Oderbruch.
Hauke hatte extra seinen Laden dicht gemacht, war mit Wu und JHS raus auf die Farm gekommen. Der Soldiner Score hatte mir den DID geraubt, aber meine Freunde konnte er mir nicht nehmen.
JHS zeigte sich begeistert von den großen Flächen für die Kraniche, die langsam weiter Richtung Norden zogen. Einige, erklärte ich Justin, würden bleiben. Der Datenforscher war sofort Feuer und Flamme, skizzierte Pläne für eine Langzeitstudie. Im Herbst dann wollte er Tage und Nächte in einem kleinen Versteck verbringen, das perfekte Kranichbild war sein Ziel.
Ich schlug ihm vor, eine Drohne zu bauen, die einem Kranich ähnelte. „Die kann mit den Kranichen ziehen“, erklärte ich Justin und er nickte wissend. Ja, das würde er planen, sagte er. Schill stand etwas abseits an der Feuerstelle. Als Hamburger kannte er sich mit Grillfesten aus und er hatte die beste Sucuk mitgebracht. Das war etwas, was ich hier im Oderbruch vermissen würde. Schill brachte ein Stück Gesundbrunnen ins Niemandsland.
Wu und Dörte waren in der Zwischenzeit raus an den See. Ein wenig mit Koi schwimmen. Wu belastetet der Internationalisierungsschock noch immer. Auf ihrer großen China-Reise im Frühjahr hatte sie versucht, mit dem chinesischen Staatsministerium den Termin mit den Bayern festzumachen. Die Nationalmannschaft Chinas gegen die beste Mannschaft des Landes. Das hätte dem neuen DFL-Büro noch einmal einen kräftigen Push gegeben.
Aber der Skandal um die U20 des WM-Gastgebers 2030 hatte Wu und die DFL in eine unmögliche Verhandlungsposition gebracht. Wieder einmal waren es die Fans, die ihre Traditionen verteidigend für größte Zerwürfnisse gesorgt hatten. „Gehen wir nicht dahin, dann gehen da andere hin“, sagte Wu. „Die Freiheit der Bundesliga wird in Peking verteidigt.“
So blieb nur das Freundschaftsspiel zwischen Wolfsburg und Frankfurt, das Freundschaftsspiel zwischen den Betriebssportmannschaften von Volkswagen und Indeed. Der Allianz blieb der Zugang vorerst verwehrt. Und mit ihr dem Starensemble um Robert Lewandowski, James Rodriguez und Thomas Müller.
Aber das sollte an diesem Samstag nicht das Thema sein. Da ging es um alles. Um die Nachhaltigkeit der Liga, um den Titelkampf und um das Drama in Gelsenkirchen.
Eine interne Studie der DFL hatte gezeigt, dass nur eine übertriebene Zuspitzung des Dramas international noch für Aufmerksamkeit sorgen könnte. Die Liga war nach dem 5:0 im Klassiker direkt auf der Resterampe gelandet, und all das vor anstehenden Rechteverhandlungen in einigen der größten Wachstumsmärkten der Welt.
Warum erzähle ich Ihnen das alles? Die Antwort ist einfach: Die Bundesliga hat sich noch vor 2024 selbst gerichtet. Nicht einmal die letzten Jahre würde sie so mit Anstand über die Bühne bringen.
Kurz vor Anpfiff legte ich Juliane Werding auf und sang für mich allein vom Schalker Untergang. Dörte war es peinlich, JHS zeigte wild auf sein Tablet, schrie etwas von den underlying stats, Schill erfuhr von Holtby und Wu lachte still. Sie wusste es besser.
Das Spiel begann, Dortmund traf, doch gerade als ich die Werding noch einmal hochdrehen wollte, malte Zwayer einen Kasten in die Luft. Wie ich es hasste. Irgendwer hatte nach Gerechtigkeit geschrien und das Spielfeld noch unebener gemacht.
Anstatt einen Wettbewerb unter ähnlichen Startbedingungen einzufordern, hatte der Fußball sich in ein technokratisches Biest verwandelt. Das entsprach dem Zeitgeist. Kurios war nur, dass Magath, der alte Schinder, damit zuerst hausieren gegangen war. Fußball als Schach. Ich werde es nie verstehen.
Die Verfechter des neuen Fußballs verwechselten die Zerstörung jahrzehntealter Strukturen mit moderner Genialität. Was Konstrukte wie Leipzig dort unter Laborbedingungen mit größtmöglichem Geldeinsatz und immer am Rande der Legalität leisteten, verhöhnte die Arbeit der alten Vereine, die Menschen mehr boten als Erfolg.
Die Zeit für diese Gedanken blieb mir. Ich regte mich einmal kurz über die Spielfortsetzung, den lächerlichen VAR auf und dann weiter, die Trümmertruppe abschießen. Daraus wurde nichts und mit jeder Karte, die Zwayer zeigte oder nicht zeigte, wurde meine Laune mieser. Das Spiel am anderen Ende des alten Hellwegs war der Untergang der Borussia, das endgültige Ende aller Träume von der letzten Bundesliga-Meisterschaft des BVB.
Dann kam der Anruf aus Dortmund. „Dembo, wir brauchen Dich!“
Ihr kennt das schon.
Wenn der BVB mich braucht, dann bin ich da, aber sowas von. Ich musste nur rausfinden, wieso man mich brauchte.
„Der Titel ist weg“, sagte der Typ am anderen Ende der Leitung. Der Meinung war ich auch. Es gab nur noch eine Chance. Den Gegner täuschen, den Gegner dort attackieren, wo es ihm schaden würde.
Bei den Bayern?
Man musste sie loben, ihnen fair zum Titel gratulieren. Und wer konnte das besser als Lucien Favre? Sie können es sich denken!
„Gib mir mal Lucien“, rief ich und Wu drehte sich um. Damit hatte sie nicht gerecht, aber sie mochte die Worte, die ich nun formulierte.
„Lucien!“
„Wer sind Sie?“
„Dembo.“
„Ich kenne Sie nicht.“
„Denken Sie später darüber nach. Hören Sie mir nun genau zu.“
In diesem Moment traf Witsel und wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie Lucien Favre auf keiner TV-Aufnahme. Da war er im Tunnel mit Dembo.
„Aber der Witsel!“
„Der Witz ist: Witsel egal. Lucien, Sie müssen nach dem Abpfiff das Meisterschafsrennen beenden! Bayern ist Meister! Verstehen Sie das? Sie müssen das in jede Kamera sagen!“
„Aber wir können noch …“
„Lucien! Hören Sie mir nur zu. Das regel ich mit Aki. Das gibt ne schöne Unruhe. Sie geben den, für den man sie hält. Sie sind der Zauderer, der Verweigerer, der Aufgeber, der, der Titel wegschmeißt.“
„Aber …“
„Herr Favre! Ich bitte Sie! Machen Sie einfach.“
„Okay. Der Titel ist gespielt! Ich werde das sagen! Wissen Sie, Dembo, der Elfmeter…“
„Regen Sie sich auf. Seien Sie laut, brüllen Sie den Laden zusammen. Lenken Sie einfach von diesem Untergang ab.“
Und so kam es. Und Wu lachte. Sie sagte: „Dembo! Es ist egal, was du sagst. Wir haben das so choreographiert. Wir brauchen clickable content. Dafür ist das sehr geil. Warte ab, was in Nürnberg passiert! Und warte ab, was dann passiert. Es wird huge! Die Bundesliga ist nicht tot, Dembowski! Wir lassen Sie wiederauferstehen.“
JHS verstand das alles nicht. Die Wahrheit sei in den Daten, sagte er. Wir lockten ihn zum See. Justin und seine Daten sollten mal eine Runde schwimmen. Und während JHS seine Runden drehte, klingelte auch schon Wus Telefon. Sie stellte auf laut: “Felix hier!”
Aber das ist eine andere Geschichte.