Wer fegt die Scherben zusammen?
Für fast zehn Jahre, genauer gesagt seit dem Beginn der Amtszeit unter Trainer Jürgen Klopp, ging es für Borussia Dortmund sukzessive bergauf. Eine Spielidee, die damals ihresgleichen suchte, fand Einzug am Rheinlanddamm, der Verein tilgte kontinuierlich seine Schuldenlast - ja, der Blick in die Zukunft war rosig. Wie im Zeitraffer vergingen diese Jahre und der eine oder andere stellt sich bisweilen die Frage, ob er diese überhaupt genügend genossen hat. Klopp ging mit Schmerz, Tuchel ging mit Streit und Bosz ging mit Selbstlosigkeit. Mit was wird Peter Stöger gehen?
Der hat nach Köln in Windeseile eine Mannschaft übernommen, die desolat durch die Liga stolpert. Ohne Anker, ohne Idee und ohne Grundausrichtung. Der Trainerwechsel hat zwar zur (vermeintlichen) Stabilisation auf einem höheren Niveau geführt, doch die Gegner, gegen die auch Bosz' Team schlecht aussah, stehen nun erst noch vor der Tür. Probleme hat Borussia Dortmund aktuell also viele, wer aber im Sommer den Versuch unternehmen darf, in leitender Position den Scherbenhaufen zu fegen, ist noch ungeklärt. Arbeit gibt es zur Genüge:
1. Borussia hat über die Dekade kontinuierlich seine besten Spieler verloren. Lewandowski, Gündogan, Hummels, Mkhitaryan, Dembélé und (vielleicht) Aubameyang waren allesamt Ausnahmekönner, die ich persönlich als "Bessermacher" bezeichne. Per Definition sind das für mich Spieler, die über eine sehr hohe Qualität verfügen und damit alle Mitspieler in ihrem Wirkungsradius verbessern. Als so ein Alleinunterhalter ist nur noch Marco Reus geblieben, der ein perfektes Beispiel für diese Sorte Fußballer ist. Nach langwieriger Verletzung kam er erneut zurück und fügt sich nicht einfach nur ins Team ein, sondern ist sofort der Mann, der Mitspieler und Spiel auf ein höheres Niveau hebt. Unter der Berücksichtigung des aktuellen spielerischen Zustands gibt es aber durchaus berechtige Zweifel, ob Marco Reus auch noch nächste Saison im Westfalenstadion auflaufen wird. Sein Vertrag endet übernächste Saison.
Die Kaderkosten sind innerhalb von zehn Jahren kontinuierlich gestiegen, die Qualität des Kaders hat allerdings nachgelassen. Ab einem Punkt scheint es nicht mehr länger möglich gewesen zu sein, die Verluste aufzufangen. Die Waage kippte in die andere Richtung.
2. Das lässt die sportliche Leitung in keinem guten Licht dastehen. Sie hat es nicht verstanden, den Kader unter steigenden Aufwendungen auf einem angemessenen Niveau zu halten. Anders herum gedacht: Sie versteht es nicht mehr länger. Überteuerte Ablösesummen wurden für Spieler gezahlt, deren größten Erfolge in der Vergangenheit liegen oder schlicht biederen Durchschnitt darstellen. Hier musste sich sicherlich der schwierigen Marktlage und dem Bewusstsein anderer Vereine, dass die Liquidität des BVB gestiegen ist, hingegeben werden, die Einkaufsstrategie wirkt dennoch nur wenig kongruent.
Neben teuren Stars wurde zusätzlich an der Verpflichtung eines "Parallelkaders für den Transfermarkt" gebastelt. Die Transfers von Dembélé, Mor, Merino, Sancho und Isak erinnerten an die Zeit, in der der BVB junge Spieler entwickelte und förderte. Die Erfolge der Vergangenheit lassen Entwicklung in diesem Maße allerdings längst mehr nicht zu und so dient der BVB für viele der Talente als Durchlauferhitzer für ihren Karriereweg. Kohärenz sucht man bei der Kaderstruktur vergeblich.
3. Für was für eine Art von Fußball steht der Verein Borussia Dortmund im Jahr 2018? Richtig zu wissen scheint er das selbst nicht mehr. Kloppscher Vollgasfußball ist längst passé, flexibler Ballbesitz ist seit dem Abgang von Tuchel Vergangenheit, die Gegenpressing-Renaissance unter Bosz blieb aus und welche Fußballidee Peter Stöger verfolgt, ist nicht erkennbar. Von zuvor klar etablierten Spielkulturen ausgehend hat sich Borussia in kürzester Zeit zu einem Biedermann entwickelt, der 16 anderen Mannschaften der Bundesliga in ihrer fußballerischen Bräsigkeit in nichts nachsteht. Destruktiver Einheitsbrei und das Setzen auf individuelle Klasse sind längst das Allheilmittel im Ligaalltag. Die sportliche Identität ist der mutmaßlich größte Scherbenhaufen, der im Sommer dringend wieder zusammengesetzt werden muss.
Welcher Spielstil entspricht dem Charakter des Gesamtvereins? Was soll in allen Mannschaften als spielerische Leitkultur dienen und umgesetzt werden? Dass Hans-Joachim Watzke und Michael Zorc diese essentielle Frage bisher erkannt oder gar beantwortet haben, das darf hinlänglich bezweifelt werden. Dafür sprechen allein die möglichen Nachfolger, die nach der Posse mit Thomas Tuchel im Sommer gehandelt wurden. Lucien Favre, Peter Stöger und Peter Bosz: Allesamt Trainer, deren Ideen von Fußball sich grundlegend unterscheiden. Zynisch könnte man festhalten, dass die einzige kohärente sportliche Leitkultur bei Borussia Dortmund der Erfolg sei.
4. Peter Stöger ist hoch anzurechnen, dass er nach dem unrühmlichen Ende Bosz' vor Weihnachten so zügig dazu bereit war, die nächste verunsicherte Mannschaft zu übernehmen. Die reinen Ergebnisse sprechen (noch) für sich, aber die spielerische Armut, die bei den gleichzeitig herausragenden finanziellen Mitteln mittlerweile Einzug gehalten hat, ist erschreckend. Der Kader hat viele seiner herausragenden Akteure verloren, aber selbst aus den vorhandenen Spielern sollte mit einer klaren spielerischen Vorstellung mehr herauszuholen sein. Wenn sich nur noch auf die individuelle Klasse verlassen wird, dann geht das gegen gut organisierte Mannschaften wie Salzburg in die Hose. Ja, selbst potenzielle Absteiger wie der Hamburger Sportverein und der 1. FC Köln ließen den BVB beim Aufeinandertreffen nicht wie eine Mannschaft aussehen, die sich zwangsläufig für die Champions League qualifizieren müsse.
Die Ideenlosigkeit und/oder Handlungsunfähigkeit Stögers machen ihn zu keinem geeigneten Kandidaten für eine Vertragsverlängerung. An oberster Stelle muss die Entscheidung stehen, in welche Richtung der Verein sich in Zukunft ausrichten möchte. Genau danach sollte dann ein Trainer verpflichtet werden. Vielleicht kann Julian Nagelsmann nach Dortmund gelotst werden, der zwar kein riesiger Sympathieträger wäre, aber einen Koffer voller so schmerzlich vermisster Flexibilität mitbringen würde. Vielleicht wird der Verein aber auch abermals im Ausland fündig - wobei fraglich ist, ob die Geschäftsführung dieses Risiko nach der Erfahrung mit Bosz noch einmal so schnell eingehen wird.
5. Die große Unbekannte: Der Anschlag auf die Mannschaft im vergangenen Jahr. Sie wabert dunkel im Hintergrund und umgibt den Verein. Mathias Ginter überlegte kurzzeitig mit dem Fußball aufzuhören und Marc Bartra floh, wohl weniger aus sportlichen Gründen, aus Dortmund zurück nach Spanien. Am 19.3 werden acht (Ex-)Spieler vor Gericht aussagen. Der Einfluss auf den gesamten Kader ist wie erwähnt nicht zu fassen, er schwelt allerdings weiter und sollte nicht gänzlich in Vergessenheit geraten.
Viele Scherben müssen zusammengekehrt und wieder zu einem einheitlichen Gebilde geformt werden. Die Stellschrauben, an denen es im Sommer zu drehen gilt, sind riesig. Der eine oder andere wird mir vorwerfen, dass das Jammern auf hohem Niveau sei. Das Gefühl, dass sich beim BVB nach zehn erfolgreichen Jahren etwas in die völlig falsche Richtung entwickelt, werde ich mir dennoch nicht nehmen lassen. Finanziell ist Borussia gesund aufgestellt, sie wird auch im nächsten Jahr in Konkurrenz um die internationalen Ränge treten können.
Die Angst des sportlichen Rückschritts bleibt dennoch. Der Verein wird nicht in die Bedeutungslosigkeit des großen Mittelfelds der Liga fallen, aber er rückt allem Anschein nach wieder näher an die Mannschaften heran, die um die internationalen Ränge kämpfen. Es tut gut, diese Beobachtung schriftlich festzuhalten: Nach der Geschichte des "Phönix aus der Asche" steht Borussia Dortmund am nächsten Scheideweg seiner langen Vereinsgeschichte.