Unsa Senf

Lieber Marco...

29.06.2018, 00:00 Uhr von:  SSC
Lieber Marco...

Nach gerade einmal drei Spielen ist dein Traum von einem großen Turnier mit der Nationalmannschaft vorbei. Die Weltmeisterschaft 2018 wird in die Geschichte eingehen, weil sie für das deutsche Team einen absoluten Nullpunkt darstellte: Noch nie war eine deutsche Mannschaft so katastrophal in eine WM-Saison gestartet. Noch nie schied eine deutsche Mannschaft so früh aus einer Weltmeisterschaft aus. Diese Mannschaft, gespickt mit Weltmeistern, Confed-Cup-Siegern, Champions-League-Siegern und höchsten Ambitionen, blamierte sich mit peinlichen Darbietungen bis auf die Knochen.

Nach der EM 2012, in der du nur eine kleine Rolle spielen durftest, und den verpassten Turnieren 2014 und 2016, wirst du auch nach dieser Weltmeisterschaft als einer der talentiertesten, aber traurigsten Nationalspieler genannt werden. Diesen Schmerz können wir dir nicht nehmen. Auch liegt es mir fern, diese erbärmliche Mannschaft, ihr Trainerteam oder Management in Schutz zu nehmen, die im Vorfeld nun wirklich alles in ihrer Kraft liegende taten, um eine WM-Vorfreude gar nicht erst entstehen zu lassen. Warum sollten wir über dieses Versagen auch den Mantel des Schweigens hüllen, warst du doch selbst dabei und konntest aus nächster Nähe verfolgen, wie es zustande kam? Dich hier aus falsch verstandener Sorge in Watte zu packen, hieße, dich nicht ernst zu nehmen. Und nichts läge mir ferner, als das.

Ich selbst habe bis heute nicht die Kraft oder den Willen gefunden, mir das Champions League Finale von 2013 noch einmal anzusehen. Im Wembley Stadion, nur wenige Meter hinter dem Tor, erlebte ich einen der schmerzhaftesten Fußballmomente, an die ich mich erinnern kann. Du weißt, wovon ich spreche. Solltest du jedoch eines Tages die Kraft und den Willen besitzen, dir eine Aufzeichnung des letzten Gruppenspiels dieser Weltmeisterschaft anzusehen, wirst du dich nicht schämen müssen. Trotz aller Tragik wirst du erkennen: Als diese Mannschaft an ihrem absoluten Nullpunkt angekommen war, als die hochgelobten Hummels, Müllers und Khediras die Köpfe hängen ließen, hast du Haltung bewiesen.

Deine Einwechslung im Eröffnungsspiel brachte Schwung in eine lahme Truppe, die sich von an Harmlosigkeit nicht zu überbietenden Mexikanern mit Leichtigkeit in ihre Einzelteile zerlegen ließ. Sicherlich hatte deine ehrliche, unfreiwillig offene Aussage nach dem Spiel, das Trainerteam habe dich für die wichtigen Spiele schonen wollen (und die Gruppenphase mithin als Selbstläufer verstanden), nicht jedem DFB-Vertreter gefallen. Doch für jeden Fan oder Zuschauer, der Vorbereitung und Gruppenphase verfolgte, war eben diese Einstellung offensichtlich. Sie wird Gegenstand jeder Analyse sein, die sich in den kommenden Wochen und Monaten ernsthaft mit den Ursachen des Scheiterns auseinandersetzen sollte.

Gegen Schweden, den späteren Gruppensieger und nach Einschätzung einiger Beobachter stärksten Gruppengegner, sorgtest du für offensiven Druck. Dein Treffer hielt Deutschland im Rennen, als das Vorrundenaus erstmals in greifbare Nähe gerückt war. Niemandem hätte ich es mehr gegönnt, dieses Tor zu erzielen! Und ohne mich allzu weit aus dem Fenster zu lehnen, gehe ich davon aus, dass es wohl jedem Fan in Dortmund und Deutschland ähnlich ging, der deinen Weg in den vergangenen Jahren verfolgt hatte.

Die wichtigsten Szenen, die mir von dir bei diesem Turnier in Erinnerung bleiben werden, spielten sich jedoch in den Schlussminuten des Spiels gegen Südkorea ab. Über 85 Minuten war dir recht wenig gelungen, wie viele deiner Mitspieler konntest auch du keine nennenswerten Chancen kreieren. Doch je öfter die Kamera auf die fassungslose deutsche Ersatzbank schwenkte, die leeren Blicke auf dem Platz einfing, die hängenden Schultern dieses ebenso hochdekorierten wie leidenschaftslosen Kaders dokumentierte, desto stärker fiel auf, dass du in diesen Augenblicken die Führung übernommen hattest. Du hast deinen Mitspielern Kommandos gegeben, den Kopf oben gehalten und dich nicht einfach deinem Schicksal gefügt. Als einzigem deutschem Spieler ist es dir gelungen, selbst in den bitteren Minuten vor dem Schlusspfiff eine aufrechte Körperhaltung anzunehmen und Würde zu bewahren.

So leer und niedergeschlagen du dich heute fühlen magst, so dramatisch deine große WM-Hoffnung geplatzt ist und so hart du mit dir selbst ins Gericht gehen wirst, sollte dir daher doch immer eines gewiss bleiben: Wenn andere Nationalspieler eine Hypothek in die kommende Bundesligasaison nehmen und unter besonderer Beobachtung stehen werden, wirst du dir nichts vorwerfen lassen müssen. Du wirst in Dortmund mit offenen Armen empfangen werden und die Südtribüne wird hinter dir stehen, genauso wie sie mit dir in Russland gelitten hat. Wir haben gesehen, wer in dieser Nationalmannschaft die Hoffnung nie aufgab, als das Unmögliche immer möglicher schien.

Und so kehrst du eben nicht mit leeren Händen aus Russland zurück, sondern hast Haltung bewiesen, als es nötig war. Und so, wie du Borussia Dortmund kennst, wirst du wissen, dass man ein größeres Kompliment in einer so bitteren Stunde nicht aussprechen kann.

Danke, Marco.

Borusse.

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