Die Lehren von Samstag
Ein schönes Spiel mit einem nicht ganz so schönen Drumherum. Auch wenn der Frust vieler Fans verständlich ist: Die fehlende Einstellung allein ist nicht das Problem.
Letzten Samstag, gegen 20:15 Uhr: Mit Marco Reus verlässt der zweifache Torschütze gegen Bayer Leverkusen den Platz und darf sich den Applaus des ganzen Stadions abholen. Endlich mal wieder eine herausragende Leistung des Dortmunder Eigengewächses, das erst unlängst seinen Vertrag verlängert hat und weitere fünf Jahre in Dortmund bleiben wird. Die meisten werden sich erinnern: Es war bereits seine zweite Vertragsverlängerung in schlechten Zeiten, nach der ersten damals im Februar 2015, als der BVB auf den letzten Tabellenplatz abgerutscht war. Wieder einmal ein starkes Zeichen eines waschechten Dortmunder Jungen also. Ihm kann man abnehmen, dass er gern in Dortmund lebt und gern für den BVB auf dem Platz steht.
Als sich der tosende Applaus dann langsam legte und das Spiel gemächlich in Richtung Schlusspfiff plätscherte, wurde unten auf der Südtribüne wieder das Lied angestimmt, das bereits die Minuten vor Reus‘ Auswechslung begleitet hatte: „Spieler kommen und gehen, Borussia bleibt bestehen!“ Und auch wenn dieses Lied sicher nicht absichtlich gesungen wurde, um sich spezifisch an Marco Reus abzuarbeiten, steht es sinnbildlich für all die Dinge, die Samstag nicht ganz so gut wie das Spiel gelaufen sind.
Dass das Spiel gegen Leverkusen das Potential barg, um für einen großen Knall im Verein zu sorgen, war natürlich nicht überraschend. Der Frust ist groß in Dortmund, und das liegt nicht nur am schwachen Auftritt im Derby. Seit Jahren wird ein schleichender sportlicher Abstieg moderiert, sowohl hinsichtlich der Ergebnisse als auch mit Blick auf den Fußball auf dem Platz. Dazu mangelt es der Mannschaft an Identifikationsfiguren, nachdem wichtige Korsettstangen der letzten Jahre freiwillig oder unfreiwillig den Verein verlassen haben. Die Folge: Es fällt vielen Fans schwer, sich konkret mit der Mannschaft auf dem Platz verbunden zu fühlen, und das Interesse am Spiel sinkt. Unter der Hand fällt gerade auch bei Allesfahren sehr oft der Satz, dass man eigentlich nur der Freunde wegen noch zum Fußball fahren würde. Kein Wunder, dass es unterhalb der Oberfläche ziemlich brodelt.
Gegen Leverkusen brach der Vulkan jedenfalls dann aus. Schon vor dem Spiel wurde die Mannschaft unsanft mit „Versager!“-Plakaten und dem an Drastik kaum zu überbietenden „Niemand verkörpert Borussia Dortmund so wenig wie ihr!“ begrüßt, und nachdem dann während des Spiels endlich mal wieder Tribüne und Mannschaft gemeinsam ein Feuerwerk abgebrannt hatten, schaltete man in Block Drölf gen Spielende zurück in den Wagenburgmodus. Mit dem Lied von oben, einem Pfeifkonzert statt der obligatorischen Welle und obendrein vereinzelten Halsabschneidegesten als geschmackloser Krönung. Schön war das nicht. Einzig Sven Bender wurde für seine Lebensleistung in schwarz und gelb gefeiert. Aber auch da kam unterschwellig der Gedanke auf: Wenn der Junge im Sommer nicht den Absprung geschafft hätte, wäre er jetzt ziemlich sicher auch vom Platz gepfiffen worden.
Im Nachgang wurden diese Aktionen auch bei uns verteidigt und mit pauschaler Kritik an der Mannschaft unterfüttert. Es ist die Rede von einer Beamtenmentalität, wonach nur zählt, das Soll zu erfüllen, und es seien weder spielerische Mängel oder mentale Probleme im Nachgang des Bombenanschlags, die zu Auftritten wie im Derby führen würden, sondern allein die fehlende Einstellung der Spieler. Mit dieser Lustlosigkeit wird dann die schlechte Stimmung im Umfeld begründet, und dann brauche man sich auch nicht darüber wundern, wenn sich die Wut mal entlädt. Geschmacklose Gesten hin oder her.
Mindestens in zweierlei Hinsicht kann man solche Texte nicht unwidersprochen stehen lassen: Die Analyse der sportlichen Situation klingt ziemlich nach Stefan Effenberg. Einstellung ist alles, der Rest ist egal. Dabei wird unterschlagen, was rund um Borussia Dortmund in den letzten zwölf Monaten so passiert ist. Natürlich hat der Bombenanschlag Nachwirkungen, insbesondere wenn parallel ein entsprechender Prozess läuft. Aber auch sonst: Es gab zwei Trainerwechsel, das Theater zunächst um Dembelé und dann um Aubameyang, die Querelen innerhalb der sportlichen Führung samt Abgang des Chef-Scouts, dazu die üblichen längeren Verletzungen, und selbst drei Spieltage vor Schluss ist unklar, ob der Trainer an der Seitenlinie eine lame duck ist oder mangels Alternativen nicht doch die Chance bekommt, die Mannschaft ein weiteres Jahr zu betreuen. Viel mehr Chaos herrscht beim HSV auch nicht.
Und dann darf man natürlich noch die Frage stellen, woher eigentlich die Selbstgerechtigkeit vieler Fans kommt. Die Stimmung im Westfalenstadion ist nicht erst seit dieser Saison bestenfalls mäßig, und die Verantwortung dafür liegt natürlich nicht nur bei der Mannschaft auf dem Platz. Dass es leichter ist, laut zu sein, wenn man guten Fußball zu Gesicht bekommt, ist klar, aber ansonsten erinnert die Logik an wenig an die des verhassten Operettenpublikums: Man klatscht nur, wenn die Leistung stimmt. (Und die Ironie der Geschichte ist auch, dass viele der pöbelnden Fans in der Woche zuvor gar nicht beim Derby sein konnten. Wegen der lokalen Stadionverbote von 2013, die es in dieser Form vermutlich nicht gegeben hätte, wenn nicht ein großer Haufen BVB-Fans der Meinung gewesen wäre, mal komplett über die Stränge schlagen zu müssen. „Niemand verkörpert Borussia Dortmund so wenig wie ihr!“ hätte man sich damals als klares Statement auch gewünscht…)
Nüchtern betrachtet kommen wir so nicht weiter. Spätestens wenn der neue Trainer da ist und einige schmerzhafte Veränderungen im Kader vollzogen sind, müssen sich Mannschaft und Fans aufeinander zu bewegen. Eine Idee könnten regelmäßige Treffen von Mannschaftsrat, Trainerteam und Fanvertretern sein. Nicht mit Freibier, Fotos und Heititei, sondern in einer Arbeitsatmosphäre. Wenn beide Seiten loben und kritisieren können, entsteht vielleicht wieder ein Gefühl dafür, dass Mannschaft und Fans an einem Strang ziehen müssen, um nachhaltig Erfolg zu haben. Und vielleicht entstehen dadurch auch weitere Identifikationsfiguren. Hinter Marco Reus wird es in der Hierarchie bald nämlich sehr dünn.