Nachhaltig geborsten.
Die sportliche Krise beim Ballspielverein ist nicht das einzige Problem, das den BVB umgibt. Ein paar Worte vom soon-to-be-Ex Chefscout Sven Mislintat über den letzten Übungsleiter Thomas Tuchel zeigen, dass die Probleme letzthin deutlich tiefer liegen.
Dass ein Angestellter seinen Arbeitgeber wechselt, ist nun wirklich nichts Besonderes, egal ob im „normalen Leben“ oder der Blase Profifußball, in der Spielerverträge eh nicht den gewöhnlichen Regeln unterliegen. Und doch ist der Abschied von Sven Mislintat, der den BVB zum 1.12. in Richtung Arsenal FC verlässt, eine Neuigkeit: Die Londoner zahlen eine stattliche Ablöse für einen Scout, keinen Spieler. Mislintat scheidet in Dortmund nicht nur als Leiter der Scouting- und Analyse-Abteilung des BVB aus, er verlässt auch seinen langjährigen Wegbegleiter und Freund Michael Zorc für eine neue Herausforderung.
Dabei hatte Mislintat nach eigener Aussage bis vor zwei Jahren gar nicht vor, eine neue Herausforderung zu suchen. Dass er überhaupt auf die Idee käme, seinen Herzensverein Borussia Dortmund zu verlassen, hätte der gebürtige Kamener bis dahin nicht geglaubt, und begründet er sie im Kicker mit dem Streit, in den er mit Thomas Tuchel geraten war. Seine nachfolgende Verbannung vom Trainingsgelände, die Watzke und Zorc unfreiwillig mitgetragen haben, um den Trainer nicht zu verärgern, habe Mislintat ins Grübeln gebracht. Seinen Traumjob nicht mehr so ausführen zu können wie gewohnt und geliebt, dürfte Zweifel an seinem Standing geschürt haben, die Arsenal mit einem unwahrscheinlich fürstlichen Angebot nun in einen Abschied umgewandelt hat. Thomas Tuchel dafür nun die alleinige Schuld zu geben, wäre Unsinn. Er hat seine Bosse seinerzeit jedoch sicher nicht in eine einfache Lage gebracht. Um eine kurzfristig produktive Arbeitsatmosphäre bemüht, haben Watzke und Zorc nur halbherzige Entscheidungen getroffen und mittelfristig beide Angestellten verloren – den Einen notwendigerweise, den Anderen äußerst unfreiwillig.
Dieser Streit mit Sven Mislintat sollte nur eine von vielen Eskapaden des Thomas Tuchel beim BVB sein. Eskapaden, die sich Watzke und Zorc eher zu lang als zu kurz tatenlos ansahen, nur um die Demission dann zum denkbar ungünstigen Zeitpunkt grauenhaft zu kommunizieren. Wie sich nicht nur an Mislintat zeigt, hat die Episode Tuchel beim BVB Risse hinterlassen, die zu kitten kaum möglich scheint.
Einer dieser Risse verläuft mittlerweile quer durch die Fans der Borussia. Gespalten in jene, die Tuchel seinerzeit gern gehalten hätten und jene, die die Notwendigkeit seiner Ablösung erkennen, gibt es bei den Anhängern des BVB nur noch Extreme. Die (Minder-)Leistung des neuen Trainers Peter Bosz wird nicht nur direkt am Erfolg Tuchels gemessen, sie wird auch unweigerlich dem Geschäftsführer angekreidet. Dass das Urteil dabei selten fair und unter Berücksichtigung aller Umstände gefällt wird, passt zu unserer Zeit der Radikalität – es ist aber auch der schlechten Kommunikation des BVB geschuldet, der den Menschenfänger Klopp kommunikativ nie ersetzen konnte.
Und so driften die Fans auseinander, gespalten in solche, die langjährige und äußerst verdiente Borussen wie Sahin, Schmelzer oder Watzke als Königsmörder sehen und jederzeit gegen Tuchel eintauschen würden, und jene, denen die Einordnung der Sachverhalte zunehmend lästig wird, da die Meinungen im Falle Tuchel nur aus schwarz und weiß bestehen. Dass Watzke sich in der gesamten Causa nicht astrein und vollkommen unschuldig verhalten hat, wird wohl niemand bestreiten. Er ist aber nicht nur weiterhin Geschäftsführer des BVB, er hat vor allem vor der Bestellung Tuchels schon massenhaft Verdienste um den Verein gesammelt, die seit Tuchels Demission vollends vergessen scheinen.
Unlogisch wird es dann, wenn man sich die Einwechselung Weidenfellers gegen Tottenham vor Augen führt: Roman Bürki, von Tuchel installiert und von Zorc mit einem langjährigen Vertrag ausgestattet, war zu Beginn der Champions-League-Saison des BVB mit einigen Stellungsfehlern ins Kreuzfeuer geraten. Seither wird der Schlussmann des BVB von Teilen der Fans als zu schlecht erachtet und soll ausgerechnet durch jenen Roman Weidenfeller ersetzt werden, der seinen Zenit mittlerweile merklich überschritten hat und genau zu der Riege Spieler zählt, die erfolgsorientierte Befürworter eigentlich lieber gestern als heute aus dem Kader werfen würden. Dass mit Weidenfeller ein sportlich schwächerer Altborusse derart frenetisch bejubelt wird, während Sahin oder Schmelzer als Königsmörder gesehen werden, ist schlüssig nicht zu erklären und Folge eines Trainerwechsels, der zwar zweifellos notwendig war, aber bestenfalls mangelhaft kommuniziert wurde.
Mit Peter Bosz wurde von Watzke und Zorc ein Trainer verpflichtet, der nun möglicherweise an seinen eigenen Ansprüchen scheitern wird. Der Niederländer, der für den attraktiven Fußball seiner letzten Mannschaften hohes Ansehen genießt, fand in Dortmund augenscheinlich einen Kader vor, der nicht zu dem von ihm bevorzugten Spielstil passt. Die Riege reicht von individuellen Qualitätsmängeln über unpassende Spielertypen und eine sensible Hierarchie bis zu einer Ursache, die den halben Kader des BVB zu lähmen scheint: der Anschlag auf den Mannschaftsbus liegt immer noch weniger als acht Monate zurück.
Zu wenige Spieler im Kader können mentale Rückschläge abschütteln und unbeeindruckt ihre Leistung bringen, nahezu keiner der Kicker bietet seinen Kollegen den nötigen Halt auf dem Feld. Schmelzer und Sahin, in der Mannschaft hochgradig angesehen und respektiert, sind hervorragende Mentoren, aber zu wenig Stütze für ein Team, dessen Verunsicherung auf dem Platz greifbar ist. Im Kader stecken viele Spieler, die ihr Potenzial ausschöpfen können, wenn es um sie herum läuft und zu wenige Spieler, an denen sich Kollegen in schlechten Zeiten aufrichten können. Und so bringt ein Großteil der Mannschaft aktuell nicht auf den Rasen, was man sich von den Spielern erhoffte.
Peter Bosz’ System ist dabei keine große Unterstützung. Während andere Trainer die Taktik nach dem wählen, was der Kader hergibt, versucht der Niederländer nach wie vor, die schwächelnde Borussia mit seiner Spielidee wieder in die Spur zu bringen. Dass der BVB bei entsprechender Form aller Mannschaftsteile darin brillieren kann, hat er zu Saisonbeginn bewiesen, als ernsthafte Meisterschaftsträume durch Dortmund waberten. Doch diese Form ist nicht vorhanden und es ist fraglich, wann ob sie rechtzeitig zurückkehren wird.
Dabei sind all diese Personen Legenden dieses Clubs. Sie sind Architekten und Bauarbeiter einer der erfolgreichsten Ära der Vereinsgeschichte. Sie haben den BVB in die Position gebracht, in der ein Verpassen der Champions-League-Qualifikation als Katastrophe gesehen wird. Sie verdienen das Ansehen und den frenetischen Jubel, den Roman Weidenfeller bekommen hat, als er für den verletzten Bürki gegen Tottenham aufs Feld kam – auch wenn man sie nie von Kritik freisprechen kann oder sollte. Watzke muss sich genau so für seine Trainerwahl verantworten wie Schmelzer oder Sahin für ihre Leistungen auf dem Platz, doch alles bitte in einer sachlichen und fairen Tonlage.
Doch das bekommen sie nicht mehr. Zu vergiftet ist das Umfeld des Clubs seit der Episode Thomas Tuchel, zu nachhaltig geborsten ist die Einigkeit der Borussen-Familie. Diesen Schaden wird der BVB nicht mit einem simplen Trainerwechsel bewältigen können. Die Stempel „Königsmörder“ werden bleiben wie die Zwietracht und die Extreme, die sich im Umfeld breit gemacht haben. Gegen diese Aussicht wirkt der Verlust von Sven Mislintat plötzlich fast schon beruhigend unbedeutend.