Berliner Lotterie - und Nervenspiele
Als eine kurze und sportliche Verschnaufpause - so empfand man zumindest gefühlt die doch eher wichtige Partie gegen die alte Dame aus Berlin, bei der es um nicht weniger als um den Einzug ins Viertelfinale ging. Zu omnipräsent hingen die dunklen Wolken der Vorfälle vor der letzten Bundesliga-Partie gegen die roten Bullen aus Leipzig noch über dem schwarzgelben Tempel und dessen unmittelbarem Umland. Eine diffuse Mischung aus einer Suche nach Verantwortlich(keit)en, möglichen Konsequenzen, Schuldzuweisungen und Erklärungsversuchen zwischen Medien, Politikern und Behörden, erzeugte im Vorfeld ein äußerst komisches und bedrückendes Gefühl. Entsprechend gestaltete sich auch die Pressekonferenz am Tag vor dem Spiel, bei der sich Cheftrainer Thomas Tuchel statt mit Fragen zu Kalou, Haraguchi und Ibisevic, stattdessen mit Bannern, „einer Wand des Hasses“ und der Frage nach dem persönlichen Empfinden gegenüber der Süd konfrontiert sah. Vergessen die länger währende (sportliche) Unruhe rund um Verein und Trainer, genauso wie der äußerst wichtige und vor allem verdiente Erfolg in der Liga gegen den direkten Konkurrenten RB.
Vor Anpfiff
Auch innerhalb der Redaktion von schwatzgelb.de gibt es oft verschiedene Meinungen, Ansichten und kontrovers geführte Diskussionen zu fast allen Themen, die unser Fansein begleiten. Aber es war uns schon immer ein wichtiges Anliegen, in unseren Texten und persönlich gegen Gewalt im oder um Stadion Stellung zu beziehen. Vor dem Hintergrund der Ereignisse vom vergangenen Wochenende schien es uns daher wichtig, in Form eines zum Ausdruck bereitgestellten DIN-A4-Plakats am Abend vor der Partie ein „positives Zeichen“ zu setzen und uns einmal mehr von sinnlosen Akten des Hasses und roher Gewalt zu distanzieren, mit denen - selbstredend - jeder rational denkende Mensch und auch der Großteil der BVB-Fans nichts zu tun haben will. „Gegen Gewalt“ eben. Trotz des geringen Vorlaufes von nur 24 Stunden und der Tatsache, dass viele BVB-Fans den Aufruf erst am Spieltag selbst mitbekommen haben dürften, folgten viele Stadionbesucher unserem Aufruf, so dass zu Beginn des Spiels die Botschaft für eine friedliche Fankultur tausendfach im Stadion und auf allen vier Tribünen verteilt zu sehen war.
Begleitet wurde die Aktion zudem von zahlreichen Bannern und selbstgemalten Plakaten, die von Fans, mehrheitlich auf der Süd, aber auch auf den anderen Tribünen gezeigt wurden und sich klar gegen jede Art von Diskriminierung aussprachen. Und auch die BVB-Fanabteilung bezog mit einem "Hömma! Gewalt ist einfach kacke!"-Transparent ganz dortmunderisch Stellung. Es war offenkundig vielen BVB-Fans ein Bedürfnis, zu zeigen, wie der absolute Löwenanteil unserer Anhängerschaft dieser Thematik gegenüber steht - auch als Zeichen an die Personen auf der Tribüne, die sich diesem Konsens verweigern wollen oder das Geschehene relativieren.
"Originell statt kriminell" und "kreativ statt primitiv“: Die Botschaft auf den gezeigten Tapeten war eindeutig. Für den Fußball - gegen Gewalt. Für uns alle ein gutes Zeichen, aber es darf nicht allein dabei bleiben. Vor dem Anpfiff richtete unser Kapitän eine Videobotschaft an die Fans.
Taktik & Personal
Ab 20:45 Uhr stand dann der Fußball wieder im Mittelpunkt. Wie bereits auf der Pk angekündigt, hütete trotz der eigentlich geltenden Regelung Roman Bürki den Kasten, um nach seiner Verletzung im Spielrhythmus zu bleiben. Das Stichwort „Spielrhythmus“ traf jedoch nicht nur auf die Position zwischen den Pfosten zu. Komplett unverändert im Vergleich zum Spiel gegen die roten Bullen schickte Trainer Tuchel seine Truppe aufs Feld. Die defensive Viererkette bestand erneut aus Piszczek, Bartra, Sokratis und Schmelzer. Weigl, Dembele, Guerreiro, Drum und Reus durften die Positionen im Mittelfeld bekleiden. Einzige Spitze, große Überraschung: Aubameyang.
Die Gäste aus Berlin mit der zu erwartenden defensiven Ausrichtung. Im Tor mit Jarstein, im Defensivverbund mit Pekarik, Brooks, Langkamp und Mittelstädt. Im Mittelfeld des weiteren mit Skjelbred, Laufwunder Darida, Stark und Haraguchi. In vorderster Front fungierten die äußerst torgefährlichen Kalou und (Lebensversicherung) Ibisevic. Bei aller Defensive, bot Trainer Dardai nichtsdestotrotz eine gehörige Portion Offensivkraft auf.
Erste Hälfte
Zu Beginn ergriff der BVB deutlich die Initiative, stark darum bemüht dort anzuknüpfen, wo man am Samstag mit einer äußerst soliden Leistung gegen Leipzig aufgehört hatte. Doch für die erste Schrecksekunde im Tempel sorgte Ibisevic beziehungsweise Sokratis bereits in der neunten Minute, der den Ball leichtfertig an den Bosnier herschenkte, um ihn dann aber noch in allerhöchster Not völlig freistehend am Abschluss und dem möglichen frühen Führungstreffer zu hindern. Die anschließende um Entschuldigung bittende Geste in Richtung der Teamkollegen gab es inklusive. Vor dem Kasten der Berliner wurde es das erste Mal nach knapp 15 Minuten richtig gefährlich: Dembele leitete den Ball in Weltklasse-Manier auf Aubameyang weiter, der sich den Ball leider zu weit vorlegte und die aussichtsreiche Möglichkeit herschenkte. Nur Augenblicke später war es erneut der Gabuner, der nach einem überragenden Zuspiel von Weigl den Führungstreffer wieder verpasste und am stark parierenden Berliner Jarstein scheiterte.
Wie die blau-weißen Gäste nach einer knappen halben Stunde dann nicht das erste Tor der Partie erzielen konnten, weiß heute wahrscheinlich nicht einmal Ibisevic selbst. Bürki parierte vorerst stark einen Kopfball von Brooks, den abgewehrten Ball brachte der Bosnier völlig freistehend aus fünf Metern tatsächlich nur über die Querlatte. Dabei seine Trauer schnellstens zu überwinden, half dem Torjäger nur kurze Zeit später sein ivorischer Sturmkollege Salomon Kalou. Stark flankte komplett umbedrängt aus dem Halbfeld, der Ex-Goalgetter von Chelsea entwischte Piszczek und verwertete das Leder zur nicht gänzlich unverdienten Führung. Die Borussia war im direkten Anschluss um eine umgehende Antwort bemüht, tat sich jedoch mit dem aggressiven Anlaufen der Gäste in Person von Haraguchi, Kalou und Darida zunehmend schwer. Dies gepaart mit einem etwas schwerfälligen Aufbauspiel sorgte dafür, dass es mit einem 0:1 - Rückstand zur Pause in die Kabine ging.
Zweite Hälfte
Der BVB kam nach Wiederanpfiff mit zwei frischen Gesichtern auf den Rasen: Beide (!) Außenverteidiger Schmelzer und Piszczek mussten in der Kabine bleiben, ins Spiel kamen dafür Pulisic und Ginter. Letzterer füllte die rechte defensive Position aus, Pulisic rückte in die offensive Reihe vor. Und es sollte ganze zwei Minuten dauern, bis die Dortmunder deutlich machten, wo die Marschroute in Spielabschnitt zwei hingehen sollte. Dembele scheiterte im Strafraum noch am Pfosten, bekam die Kugel jedoch wieder, schlug einen starken Haken und legte zurück auf Pulisic, welcher im Fünf-Meter-Raum den völlig allein gelassenen Reus fand, der nur noch zum schnellen Ausgleich einzuschieben brauchte.
Die Dortmunder kamen mit merklich mehr Dampf aus der Kabine, immer wieder angetrieben durch den äußerst aktiven und von der Hertha nicht zu kontrollierenden Dembele. Den möglichen Führungstreffer verpasste in dieser schwarzgelben Druckphase Reus dann nur knapp, die brandgefährliche Chance aus kurzer Distanz konnte Innenverteidiger Langkamp in höchster Not entschärfen. Der an diesem Abend eher blasse Aubameyang verlebte seine aufregendste Szene nach ca einer Stunde, als der Gabuner nach einem starken Doppelpass von Dembele und Reus das Leder ins Tor stocherte, jedoch zurückgepfiffen wurde: Jarstein hatte die Hände schon dran, Schiri Aytekin entschied wahrscheinlich zurecht auf Freistoß.
Von der Hertha kam in dieser Phase nicht allzu viel, am auffälligsten waren da noch die nach einer Stunde gesammelten sechs gelben Karten. Nichtsdestotrotz, standen die Gäste aus Berlin vor allem defensiv in der letzten halben Stunde äußerst solide auf dem Platz, die einzigen weiteren nennenswerten Möglichkeiten der Borussia blieben ein gefährlicher Fernschuss vom eher formschwachen Guerreiro, und ein knapp am linken Pfosten vorbeistreifender Schuss von Dembele zehn Minuten vor Schluss. Der BVB mühte sich um den letzten Punch um die Entscheidung in regulärer Spielzeit zu erzwingen, kam jedoch nicht mehr zwingend zum Abschluss und musste zum mindestens halbstündigen Nachsitzen - zum zweiten Mal hintereinander gegen eine Berliner Mannschaft.
In der ersten Hälfte der Verlängerung musste der angeschlagene Reus seinen Platz für Schürrle räumen - der vierte Wechsel der Borussia und damit gleichzeitig ein Novum. Das spielerische Niveau stieg mit zunehmender Spieldauer nicht unbedingt, der Kräfteverschleiß bei klirrender Kälte und schweren Beinen nach intensivem Spiel war beiden Teams deutlich anzumerken. Der Gastgeber gestaltete die Partie zwar größtenteils feldüberlegen, zwingend wurde es vor dem Kasten von Jarstein jedoch nicht mehr. Das einzige „Highlight“ behielt sich eine Minute vor der gespielten Zwei-Stunden-Marke „Papa“ vor, der sich innerhalb von wenigen Augenblicken mit zwei gelben Karten wegen Meckerns einen Platzverweis abholte. Unnötig, jedoch wie anschließend von Thomas Tuchel auf der Pressekonferenz bestätigt, ohne besonders große Auswirkungen auf das darauf folgende Elfmeterschießen.
In der Lotterie aus elf Metern, behielt die Borussia aufgrund von Berliner Nervenschwäche und einem starken Schweizer Rückhalt wie schon gegen Union Berlin in der Runde zuvor die Oberhand. Kalou schoss den letzten Elfer deutlich über das Tor, und der Tempel explodierte. Und für mindestens diese etwas mehr als zwei Stunden, stand einfach nur der Fußball in Reinkultur im Mittelpunkt. So wie es sein sollte.
Das kurz nach Abpfiff ausgeloste Viertelfinale hielt für den BVB den potenziell nächsten hochinteressanten Pokalabend bereit: In der Runde der letzten acht, reisen die Borussen zur Sensationsmannschaft aus Lotte. Ein weiterer, typischer Pokalabend liegt jetzt schon in der Luft.
Fazit
Ein waschechter Pokalabend, wie man ihn sich vorstellt, aber nicht unbedingt wünscht. 120 Minuten Kampf und Wille, und am Ende mit ein wenig Glück und einem starken Torwart der erfolgreiche Einzug ins Viertelfinale. Ein insgesamt von der Borussia bestimmtes Spiel, bei dem man aber nicht unverdient in Rückstand geriet und umso stärker nach der Halbzeit aus der Kabine kam. Ein Erfolg nach der regulären Spielzeit wäre sicher nicht unverdient gewesen, so musste man sich jedoch schon das zweite Mal hintereinander gegen eine Berliner Mannschaft im Elfmeterschießen durchsetzen. Kurz nach Abpfiff der Partie wurde dann auch schon der nächste Gegner zugelost: Die Sensationsmannschaft der Sportfreunde aus Lotte empfängt die Schwarz-Gelben im Viertelfinale wohl zum Spiel ihres Lebens.
Statistik
BVB: Bürki - Piszczek (46. Ginter), Bartra, Sokratis, Schmelzer (46. Pulisic) - Weigl - Guerreiro (77. Castro), Durm, Dembele, Reus (91. Schürrle) - Aubameyang
Hertha: Jarstein - Pekarik, Brooks, Langkamp, Mittelstädt - Stark, Skjelbred (84. Lustenberger) - Darida, Kalou, Haraguchi - Ibisevic (60. Schieber, 118. Allagui)
Schiedsrichter: Deniz Aytekin
Assistenten: Christian Dietz, Eduard Beitinger
Vierter Offizieller: Arne Aarnink
Tore: 0:1 Kalou (27.), 1:1 Reus (47.)
Zuschauer: 80.500
Karten: Weigl, Bartra, Castro - Brooks, Pekarik, Skjelbred, Stark, Darida, Mittelstädt
Gelb-Rot: Sokratis
Torschüsse: 9:3
Ecken: 9:1
Stimmen zum Spiel
Thomas Tuchel: „Ein großes Lob geht an Roman Bürki. Er war bei jedem Elfmeter mit einem Arm oder Bein dran. Wir hatten sehr viele Möglichkeiten, haben so viele Chancen herausgespielt. Wir stehen zurzeit mit einer sehr guten Ausstrahlung, einem guten Spirit und Qualität auf dem Platz. Aber uns fehlte erneut der Punch und der allerletzte Wille, die Sache zu entscheiden. Das war schon gegen Bremen so und auch gegen Leipzig. Am Ende war der Sieg gegen die aber hochverdient.“
Pal Dardai: „Es war ein sehr gutes Spiel mit Chancen auf beiden Seiten. Lange Zeit war es ein verdientes Unentschieden. In der zweiten Halbzeit hatte der BVB dann einen Matchball, den er aber nicht verwandelt hat. Im Elfmeterschießen ist viel Glück dabei. Die Mannschaft und die Fans können stolz auf die Leistung sein, auch wenn die Niederlage natürlich weh tut.“
02.02.2017, Boris Davidovski