Das Tuchel-Feeling
Viel Talent im Kader, keine klare Stammelf, eine variable Struktur. Der BVB steht vor einer ungewissen Zukunft, hat aber vermutlich den bestmöglichen Trainer dafür unter Vertrag. Sehen wir mit einem Jahr Verzögerung den "echten" Thomas Tuchel beim BVB?
Es gibt eine Anekdote etwa aus dem Jahr 2010, die mein Bild vom Trainer Thomas Tuchel nachhaltig geprägt hat: In irgendeiner dieser Phasen, als Mainz 05 mal wieder weit über seinen Möglichkeiten in der Tabelle unterwegs war, fiel einem Mitglied des Trainerteams der Mainzer auf dem Weg ins Stadion auf, dass sie ihre Mannschaft im Vergleich zum letzten Spiel (einem Sieg) taktisch und personell komplett umgekrempelt hatten: Anderes Spielsystem, klar, und außerdem waren fünf neue Spieler in der Mannschaft. Aber das passte eben besser zum Gegner, und nach einem weiteren Sieg wurde in der nächsten Woche halt wieder auf fünf Positionen durchgewechselt. Und wieder gewonnen.
Sich diesen "Matchplan" zuzulegen und seine Mannschaft jede Woche in einer anderen Grundformation und einer anderen personellen Konstellation neu auf den Platz zu bringen, das war 2010 fast revolutionär, als Udo Lattek allwöchentlich noch Weisheiten vom Schlage des Never change a winning team formulieren durfte und höchstens eine Rotation aus Belastungsgründen als statthaft galt. Ein paar Jahre später ist dieses Prinzip in der Bundesliga zumindest teilweise angekommen, wobei immer noch auffällig viele Mannschaften an einem gewissen Spielkonzept festhalten und höchstens Details an den Gegner anpassen. Das galt auch und gerade für den BVB unter Jürgen Klopp, der insbesondere in den erfolgreichen Jahren ein klares taktisches Schema auf den Platz brachte (ein 4-2-3-1 mit einer defensiven Grundorientierung) und zum Beispiel 2011 mit gefühlt 15 Feldspielern und einem Torhüter Deutscher Meister wurde. Und gerade in der bleiernen Saison 2014/15 war das ein Teil des Dilemmas beim BVB: Die alten Stammkräfte waren entweder verletzt, außer Form oder mental nicht auf der Höhe, und für ein variables Spiel mit einer neuen ersten Elf im Wochentakt war das Spielsystem zu statisch. Entsprechend grauenhaft verlief die Hinrunde, und erst als sich in der Rückrunde die meisten Stammspieler gefangen hatten, konnte die Saison halbwegs zufriedenstellend beendet werden.
Vor allem vor diesem Hintergrund erschien die Verpflichtung von Thomas Tuchel im letzten Sommer sinnvoll und logisch: Eine qualitativ gute Mannschaft würde um zwei, drei Neuzugänge ergänzt, und dann würde Thomas Tuchel das tun, was ihn auch in Mainz auszeichnete: Von Spiel zu Spiel die Mannschaft der zu erwartenden Spielweise des Gegners anzupassen, also im Wochentakt Veränderungen sowohl in der Struktur als auch personell vorzunehmen.
Wie wir alle wissen, ist dann genau das Gegenteil passiert. Ausgehend von der Stammelf unter Jürgen Klopp wurden in der Sommerpause leichte Veränderungen an der Struktur vorgenommen, um nicht nur gegen den Ball agieren, sondern auch mit Ballbesitz erfolgreich spielen zu können, und dann wurde quasi im Kloppschen Sinne eiskalt immer mit (gefühlt) derselben Elf begonnen. Grundformation war ein 4-1-2-3, in dem (von Roman Bürki mal abgesehen) als einziger Neuzugang Julian Weigl im defensiven Mittelfeld gesetzt war. Ansonsten blieb die Grundachse Hummels-Gündogan-Mkhitaryan-Aubameyang von Woche zu Woche bestehen, mit leichten Veränderungen je nach "Belastungssteuerung".
Was für mich im letzten Herbst überraschend war, war rückblickend natürlich sehr intelligent: Wer das Glück hat, einen qualitativ hochwertigen Kader mit einer eingespielten Struktur übernehmen zu dürfen, der krempelt nicht unnötig in den wenigen Wochen der Sommerpause alles um. Stattdessen entwickelt man die Spielweise behutsam weiter und löst zunächst das dringendste Problem, nämlich dass uns offensiv gegen halbwegs gut stehende Gegner jahrelang meist wenig einfiel. Danach erst erarbeitet man im Laufe der Zeit jene Variabilität, die man mittlerweise wohl braucht, wenn man national und international mit ganz verschiedenen Gegnern konfrontiert ist.
Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass sich diese Entwicklung in der nächsten Saison weiter fortsetzen wird: Auch wenn der Verlust von Hummels, Gündogan und Mkhitaryan sportlich schwer wiegt und so sicher nicht kompensiert werden konnte, wurde die Mannschaft quantitativ deutlich verstärkt. Selbst wenn man von potentiellen Wechselkandidaten absieht (und die Nebengeräusche bei so manchem Transfer außer Acht lässt), steht dem Trainerteam ein Kader von bis zu 25 hochtalentierten Spieler zur Verfügung, von denen keiner so heraussticht wie die drei gewechselten Spieler, der aber auch eben keiner Struktur bedarf, die um ein paar spezielle Spieler herum gebaut werden muss. Das sind beste Voraussetzungen, um mit einem Jahr Verzögerung den "echten" Thomas Tuchel in Dortmund wirken zu sehen, denn der Vergleich zu Mainz 05 von 2010 drängt sich förmlich auf. So schwierig die sportliche Situation auch ist: Wir haben vermutlich den bestmöglichen Trainer unter Vertrag, um aus viel Talent und wenig Korsettstangen ein erfolgreiches Team zu formen. Lässt man sich auf diesen Weg ein und hat Lust auf diesen neuen BVB, kann es eine geile Saison werden. Spannend anzusehen wird sie allemal.