Zeter und Mordio! BVB lässt Punkte in Hoffenheim liegen
Borussia Dortmund ist so gut in die Saison gestartet, wie noch kein Team zuvor. Die Fans dürften aus dem Feiern gar nicht mehr herauskommen, müssten sich geradezu um die begehrten Tickets prügeln – doch so manche Vorfälle der vergangenen Tage hatten die Stimmung ganz schön nach unten gezogen und die unverschämten Preise der TSG Hoffenheim für einen Fanboykott im Kraichgau gesorgt. Statt Tabellenführersause herrschte eine gespenstische Stimmung, die man nicht noch einmal erleben will.
In Hoffenheim ticken die Uhren anders. Während Traditionsvereine ihre Hütte gegen beinahe jeden Gegner vollbekommen, herrscht bei der TSG unter der Woche und gegen Vereine ähnlicher Attraktivität gerne einmal Leere. Zuschauer strömen vor allem dann ins Stadion, wenn die großen Traditionsvereine zur Retorte müssen und mehrere tausend ihrer eigenen Fans mitbringen. Kein Wunder also, dass sich die Ticketpreise in Hoffenheim (wie auch in Leverkusen und Wolfsburg) eher an der Attraktivität der Gastvereine orientieren als an der eigenen, die selbst nach Jahren der Bundesligazugehörigkeit kaum über die einer grauen Tapete hinausreicht.
Das Eingeständnis, dass Fans nicht wegen der TSG sondern ihrer Gegner ins Stadion gingen, hatte in diesem Jahr besonders absurde Blüten getrieben: Satte 55 Euro (und damit 29 Euro mehr als z.B. gegen Wolfsburg oder Leverkusen) hatten die Hausherren für den günstigsten Sitzplatz im Gästeblock angeschlagen – ein Zustand, der die Borussen auf die Palme brachte: Bereits zu Saisonbeginn hatten Kein Zwanni und eine Vielzahl Dortmunder Fanclubs, Ultragruppen und Bündnisse zum Boykott des Spiels aufgerufen. Doch erst als sich ein Erfolg der Proteste abzeichnete, der BVB 800 unverkaufte Eintrittskarten zurückschicken musste und Aki Watzke Kontakt mit Dietmar Hopp aufnahm, stellte sich ein Wandel ein: Hopp, der sich selbst zu den schärfsten Verfechtern der 50+1 Regel zählt und auf die Geschäftsführung eigentlich keinen Einfluss haben dürfte, nahm die Geschäftsführung an die Kandare und sorgte dafür, dass die Mehreinnahmen ans BVB-Lernzentrum gespendet und Topzuschläge in der Zukunft abgeschafft würden. Topzuschläge in der Zukunft abschaffen? Nein, ganz so weit wollte die TSG dann doch nicht gehen und erklärte auch weiterhin bei der Preisgestaltung davon ausgehen zu wollen, dass die Gastvereine die deutlich attraktiveren und deshalb als Cash Cow geeigneteren seien.
Nicht nur im Vorfeld, sondern auch vor Ort zeigte der Boykott massive Wirkung. Gerade einmal drei Busse waren auf dem sonst proppenvollen Gästeparkplatz zu sehen. Der Oberrang des Gästeblocks blieb zu Spielbeginn weitgehend leer und füllt sich erst später, als Fans aus dem Stehplatzbereich nach oben wanderten, dem mittlerweile gewohnten Verkehrsinfarkt rund um den Kunststoffpalast entkommen waren oder sich an der Tageskasse mit den sündhaft teuren Tickets eingedeckt hatten. Trotz zweier selbstberufener Vorsänger, die sich in Aubameyang- und Reus-Trikot gehüllt zumindest zu Spielbeginn an der Animation der Masse versuchten, blieb es gespenstisch still im sonst lautstarken Gästeblock. Das gesangliche Repertoire bestand aus „Auf geht’s Dortmund kämpfen und siegen!“, „Scheiß TSG!“ „Wir sind alles Dortmunder Jungs!“ und „Heja BVB!“ (eine knappe halbe Strophe Textsicherheit war vorhanden), erschöpfte sich darin aber vollständig. Als nach Spielende haufenweise Plakate der Sorte „Schenk mir dein Trikot!“ hochgingen, waren die letzten Fragen beantwortet.
Stimmungsmäßig also ein klares Ding für den Heimverein, könnte man meinen. Aber Pustekuchen! Der Höhepunkt der Peinlichkeiten war ein versuchter Wechselgesang: „T S G!“ – (Stille) – „T S G!“ – (Stille) – „T S G!“ – (flüsterleise Antwort von der anderen Stadionseite) „Hoffenheim“. Wenn man nicht einmal die Abwesenheit des Gegners ausnutzen kann, um eine kleine Hütte gesanglich unter Kontrolle zu bringen und für Lärm nach dem eigenen Geschmack zu sorgen, sollte man es vielleicht ganz lassen. Immerhin wurde in diesen Minuten wieder deutlich, warum man gegen den VfL Wolfsburg so gut wie keinen Eintritt verlangen kann – wer mit anderen um die Wette schweigen will, braucht dazu nicht ins Stadion zu gehen.
Sportlich gesehen gab es gleich mehrere Überraschungen. Marco Reus kehrte nach seiner Verletzungspause zurück, auch der bislang unglückliche Gonzalo Castro rückte in die Startelf – für sie auf der Bank blieben Ilkay Gündogan und Henrikh Mkhitaryan, die wesentlichen Anteil am Erfolgskurs der vergangenen Wochen und dabei doch einige Körner gelassen hatten. Wie sehr die beiden der Mannschaft fehlten, war in der ersten Halbzeit beinahe durchgehend festzustellen: Das schwarzgelbe Offensivspiel wirkte zerfahren, unglaubliche Fehlpässe reihten sich aneinander und brachten die Hoffenheimer immer dann wieder ins Spiel, wenn sich der BVB einmal solide aufgestellt hatte. Mit zunehmendem Verlauf der ersten Halbzeit entglitt den Borussen die Partie, die mit einem nicht einmal unverdienten 1:0 in die Pause ging.
Die wenigen Höhepunkte in Kurzform: Roman Bürki ließ eine Reingabe Kevin Vollands ohne Not prallen und hatte Glück, dass Eduardo Vargas den Ball aus kürzester Entfernung nicht im Tor unterbringen konnte (24.). Fünf Minuten später stürmte Bürki nach einem Freistoß aus dem Tor und räumte zwei Gegenspieler ab – eine Situation, die nicht unbedingt immer zugunsten des Torhüters gepfiffen werden muss. Pierre-Emerick Aubameyang köpfte nach einem butterweichen Freistoß Reus knapp über die Latte (31.). Bürki durfte sich bewähren, als er eine gute Parade gegen Volland zeigte (36.), im Gegenzug setzte Reus seinen Torschuss gut einen Meter links neben den Kasten. Der Gegentreffer war dann der eigenen Schlampigkeit geschuldet: Ein Ballverlust im Mittelfeld blieb unbeantwortet, Vargas setzte Rudy quer durch die Dortmunder Hintermannschaft in Szene und Marcel Schmelzer, der zunächst seinen Arm an Rudy hatte, ließ den Hoffenheimer am Ende doch frei durch den Strafraum spazieren (42.)
Der zweite Durchgang sollte deutlich besser werden. Mkhitaryan kam für den schwach gebliebenen Jonas Hofmann ins Spiel und ließ sein Können sofort aufblitzen. Konnte sich der BVB in der ersten Halbzeit vorwiegend nach Einzelaktionen oder Standardsituationen in Tornähe bringen, verteilte Mkhitaryan die Bälle jetzt mustergültig auf die Seiten. Begonnen hatte der zweite Durchgang indes mit einer Schrecksekunde: Matthias Ginter, schon den ganzen Abend mit einer ordentlichen Portion Glück unterwegs, hatte einen haarsträubenden Fehlpass im eigenen Strafraum gespielt und Glück, dass Vargas aus der Drehung nur den Pfosten traf (51.)
Als kurz darauf ein Hoffenheimer Angriff wegen abseits unterbunden wurde, wurde es an Seitenlinie wurde richtig hektisch. Markus Gisdol, der seit der ersten Spielminute mehr auf den Schiedsrichterassistenten und vierten Offiziellen eingeredet, als sich auf das Spielgeschehen konzentriert hatte, war nun zu weit gegangen. Er brüllte den Assistenten nicht mehr nur an, sondern packte jetzt auch herzhaft zu – mit beiden Händen umklammerte er den Arm des Assistenten, hielt ihn fest und beschwerte sich lautstark. Schiedsrichter Tobias Welz schickte ihn dafür auf die Tribüne, wo Gisdol von einer netten Dame in weißer Haarpracht einen Platz angeboten bekam und erst einmal auf den Kopf getätschelt wurde. Die Rolle des Rumpelstilzchens an der Außenlinie übernahm nun Co-Trainer Frank Kaspari – als Rudy Schmelzer direkt vor der Hoffenheimer Bank rüde umgesäbelt hatte und nicht einmal gelb sah, sprang er auf und echauffierte sich in ziemlich deplatzierter Weise. Schmelzer bekam sich kaum mehr ein vor Verwunderung und ließ sich beinahe in ein Wortgefecht verwickeln, als Hummels dazwischen ging und Kaspari bis auf die Presseplätze deutlich hörbar entgegen rief: „Jetzt bleibt doch alle mal locker!“
Die passende Quittung für das Gejammer hatte der BVB sofort im Köcher: Nur drei Minuten nach Gisdols Platzverweis flankte Mats Hummels auf Castro, der mit der Brust querlegte und direkt vor dem Tor den freistehenden Aubameyang fand – das 1:1 und ein neuer Bundesligarekorde waren die Folge: Nie zuvor hatte ein Spieler an jedem der ersten sechs Spieltage mindestens ein Tor geschossen – und erst einmal hatte ein Spieler an acht Bundesligaspieltagen in Folge treffen können (Robert Lewandowski, damals noch beim BVB).
Je länger das Spiel nun dauerte, desto deutlicher wurde die Dortmunder Überlegenheit. Shinji Kagawas erste und einzige nennenswerte Szene des Spiels war ein Torschuss aus rund zehn Metern, der deutlich über das Tor hinausging – die Vorarbeit hatten Mkhitaryan und Schmelzer geleistet (67.). Castros Torschuss nach Vorarbeit Mkhitaryans wurde ebenso locker pariert (71.) wie Gündogans Versuch nach einem schönen Solo (80.) und diverse weitere Versuche in den Schlussminuten. Die größte Dortmunder Chance vergab Adrian Ramos, der nach hervorragender Vorarbeit Mkhitaryans von rechts alleine vor dem Tor an den Ball kam, diesem aber nicht mehr als nur einen leichten Tusch versetzen konnte (86.). Die Hoffenheimer hatten ihrerseits vor allem nach Schlampereien der schwarzgelben Hintermannschaft Chancen: In der 71. Minute eilte Bürki aus seinem Kasten und klärte mit vollem Einsatz weit vor dem Strafraum, in der 73. Minute war Hummels mit Bruder Leichtfuß im eigenen Strafraum unterwegs und hatte Glück, dass sein Gegenspieler den Fuß nicht an den Ball bekam. Auch Ginter hatte nochmals einen Bock geschossen, als er einen Hoffenheimer an der eigenen Grundlinie legte und damit einen Freistoß ermöglichte, Ermin Bicakcic den Ball jedoch aus kürzester Distanz am leeren Tor vorbei köpfte.
Am Ende stand ein Spiel, mit dem der BVB nicht wirklich zufrieden sein konnte. Hoffenheim war an diesem Abend kein unschlagbarer Gegner gewesen und hätte spätestens in der Schlussviertelstunde erlegt werden müssen, doch eine schwache erste Halbzeit und eine ganze Reihe übler Fehler auf Seite des BVB hätten auch zur ersten Saisonniederlage führen können. Normalform hatten an diesem Abend nur die in der ersten Halbzeit schmerzlich vermissten Mkhitaryan und Gündogan sowie Aubameyang gezeigt, das war selbst für einen schwachen Gegner zu wenig.
Besondere Vorkommnisse
In der 83. Minute prallte Hummels unglücklich mit Volland zusammen und blieb mit schmerzverzerrtem Gesicht liegen. Als Volland die gelbe Karte sah, wandte sich Hummels an den Schiedsrichter und signalisierte ihm, dass es keine Absicht gewesen und die gelbe Karte nicht notwendig sei. Welz ging darauf nicht ein und blieb bei der gelben Karte.
In der Pressekonferenz nach Spielende redete sich Gisdol in Rage: „Ich muss mich heute mal zum Schiedsrichter äußern, weil es mich bis jetzt nicht loslässt, dass ich auf die Tribüne geschickt wurde. Da wird uns nach unzähligen Fehlentscheidungen eine hervorragende Chance genommen, wir können 30 Meter alleine aufs Tor marschieren – und der Angriff wird wegen Abseits abgepfiffen. Ich stand direkt hinter dem Assistenten und habe es genau gesehen: Das war nie im Leben abseits, da waren noch Meter dazwischen! Das ist eine skandalöse Situation! Die Krönung ist, dass der Linienrichter nach einer kurzen Berührung sofort zu seinem Chef schreit: „Er hat mich angefasst! Schick ihn auf die Tribüne!“ (…) Meine Mannschaft brauchte das ganze Spiel über intensives Coaching, das Eingreifen des Schiedsrichters war spielentscheidend. (…) Und ich muss jetzt noch einmal darauf zurückkommen, weil mich das einfach nicht in Ruhe lässt: Wenn Guardiola zehnmal den Schiedsrichter anfasst und den Linienrichter umarmt und die Bibiana Steinhaus in den Arm nimmt und ihr was ins Ohr flüstert, egal was, dann wird nicht reagiert. Und ich fass ihn einmal kurz an und fliege auf die Tribüne. Das kann ich nicht so stehen lassen, das sind zwei unterschiedliche Maßstäbe, die da angelegt werden! Es kann nicht sein, dass ein Trainer in so einer Situation auf die Tribüne geschickt wird und ein Schiedsrichter so extrem in den Spielverlauf eingreift. Das können wir Trainer uns alle nicht bieten lassen, das geht zu weit!“
Auf den berechtigten und scharf formulierten Einwand eines Journalisten, dass sich die Situation ein wenig anders dargestellt, Gisdol über die ganze erste Halbzeit hinweg beinahe durchgehend den Schiedsrichterassistenten belagert und ihn mehr als nur leicht angefasst habe, antwortete Gisdol sichtlich irritiert: „Zunächst einmal wollen wir doch schauen, ob Sie nicht ein gelbes Trikot unter ihrem Hemd haben. Ansonsten lade ich Sie ein, dass wir uns alle Szenen des Spiels einmal gemeinsam im Video anschauen und diskutieren. Da werden Sie feststellen, dass ich Recht habe. Der vierte Offizielle hat mir ja auch die ganze Zeit zugestimmt und gesagt, dass ich richtig liege, er aber auch nichts ändern kann. Das ist ein Skandal.“ Die wohl spannendste Pressekonferenz seit langem ließ Gisdol im 10-Sekundentakt weiter erröten, doch behielt er seine Meinung und Wut exklusiv – weder wurde Hoffenheim grob benachteiligt, noch war ihm nur das einmalige Berühren des Assistenten vorgeworfen worden.
Statistik
TSG: Baumann - Kaderabek, Bicakcic, Süle, Toljan - Rudy, Schwegler, Polanski, Schmid - Volland, Vargas
Wechsel: Strobl für Polanski (64.), Zuber für Rudy (78.), Kuranyi für Vargas (90.)
BVB: Bürki - Ginter, Sokratis, Hummels, Schmelzer – Weigl - Hofmann, Castro, Kagawa, Reus - Aubameyang
Wechsel: Mkhitaryan für Hofmann (46.), Gündogan für Reus (54.), Ramos für Castro (77.)
Tore: 1:0 Rudy (42.), 1:1 Aubameyang (55.)
Gelbe Karten: Bicakcic, Volland, Gündogan
Noten
Bürki: In der ersten Halbzeit je einmal unsicher und glücklich, ansonsten sicherer Rückhalt. Note 3.
Ginter: Bislang einer der Gewinner der Saison, konnte er in Hoffenheim nicht an seine starken Leistungen anknüpfen. Sehr oft mit reichlich Glück gesegnet reichte es nur zu Note 4.
Sokratis: Hatte mehrfach Glück, keine gelbe Karte zu kassieren. Insgesamt eine schwache Partie, Note 4.
Hummels: Bereitete den Ausgleichstreffer vor und war der stärkste Defensivakteur, spielte aber auch eine ganze Reihe unmöglicher Pässe. Note 3.
Schmelzer: Offensiv vor allem in der zweiten Halbzeit gut im Bilde, ansonsten mit einer durchschnittlichen Leistung. Note 3,5.
Weigl: Konnte nicht an die bislang starken Leistungen anknüpfen und tat sich schwer mit dem Gegner. Note 3,5.
Hofmann: Blieb nach der Pause zurecht auf der Bank, hatte in der ersten Halbzeit kaum Land gesehen. Note 4.
Castro: Maue erste Hälfte, besser im zweiten Durchgang. Die Vorlage zum 1:1 war Sahne, auch sonst waren ein paar brauchbare Pässe dabei. Note 2,5.
Kagawa: Schlechtester Borusse, konnte zu keinem Zeitpunkt Bindung zum Spiel aufbauen. Note 4,5.
Reus: Hatte nach seiner Verletzungspause große Probleme, das Spiel zu gestalten – Gündogan und Mkhitaryan fehlten ihm sichtlich. Note 3,5.
Aubameyang: Neuer Bundesligarekord im Kasten, der nächste könnte am Sonntag anstehen – riss Lücken in die gegnerische Defensive und wäre nach Ramos verpasster Chance fast noch an den Ball gekommen. Note 2.
Mkhitaryan: Mit ihm änderte sich das Spiel von Grund auf. Trotz einiger Fehlpässe wurde er innerhalb von Minuten zum mittlerweile gewohnten Dreh- und Angelpunkt unseres Spiels. Note 2.
Gündogan: Ebenso wie Mkhitaryan mit einem ordentlichen Einsatz, der das Spiel fast noch zu unseren Gunsten wandelte. Note 2.
Die Fotostrecke zum Spiel gibt es wie gewohnt auf unserer BVB-Fotoseite unter diesem Link.
SSC, 24.09.2015