Der ganz normale Wahnsinn
Es ist wieder so weit. Die Sommerpause ist vorbei und war wieder viel zu lang. Wobei, sie war gerade lang genug, um die Vorsaison zu verarbeiten. 13 Jahre Kehli sind zu Ende gegangen, ein neuer Trainer ist gekommen und ein paar neue Spieler. Die Vorfreude auf die neue Saison ist immens, neue Choreos, internationaler Wettbewerb, viele Auswärtsfahrten und natürlich (hoffentlich) viele Siege, die man zusammen feiern kann.
Kartenvorverkauf für Mitglieder. Freitagmorgen, 8:29. Vor mir liegen drei mobile Endgeräte. In jedes die Nummer 0180 5 309000 eingetippt. Neben mir mein Laptop mit angeblicher Internet-Atomuhr. 8:28:45, 46, 47, 48. Der erste Anruf geht raus. Besetzt. "F***, schon wieder nicht pünktlich losgelegt", denke ich mir. So, weiter geht’s, Telefon Nr. 2 & 3 werden aktiviert. Besetzt. Immer wieder dieser durchdringende Ton. Es ist mittlerweile ein eingespielter Bewegungsablauf: Wahlwiederholung, Lautsprecher, kurzes warten, auflegen, Wahlwiederholung, …
Jedes Mal überlege ich mir, wie man das System „fanfreundlicher“ machen könnte. Verlosung wie bei den Finalspielen? Ist für mich raus, noch nie Glück gehabt. Anstehen vor der Geschäftsstelle? Nicht realisierbar. Über den Onlineshop? Zumindest nicht unproblematisch. Also bleibt es bei der Hassliebe mit der Tickethotline.
Seitdem ich meine ersten klaren Gedanken fassen konnte, war ich Borusse. Das erste Mal 2002 beim 2:0 gegen die Pillendreher; die Entjungferung. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mit meinem Vater die Karten bestellte und noch nicht wusste, wie oft ich diese Worte der schlecht animierten Computerstimme hören würde: „ … kennen Sie diesen Service bereits? Sagen Sie ja oder nein.“
Zurück zum hier und jetzt, mittlerweile 8:50. Mein Handy zeigt 120 getätigte Anrufe. Da warst du auch schon mal besser. Egal. Weitermachen. Mittlerweile 9:20, Uni kannste heute vergessen, denke ich mir bereits, nicht, dass ich es zeitlich nicht schaffen würde, nein, die Lust irgendetwas zu tun, wenn man schon wieder keine Karten bekommt, strebt gegen Null.
Kurzer Whatsapp-Check. Ich wusste, dass es Max, meinem „Dortmund-Bro“, nicht besser geht. Er drückt sich vor der Berufsschule, um Karten zu bestellen: „Kein Bock mehr… Eh schon viel zu spät. Gute Ausrede? Ist ja nicht so, als ob das süchtig macht…“ „Ich hab mittlerweile 220-mal pro Handy angerufen…, müsste gleich auch in die VL (Vorlesung).“
Als wäre ein Leben als Exil-Borusse nicht schon schwer genug. Jedes Mal beim Öffnen der Vereinsapp sehe ich dieses Herz mit den Zahlen 3, 4 und 7. In dieser Reihenfolge und noch die Einheit darunter: km. Wenn’s wenigstens die tatsächliche Entfernung wäre, nein, es ist nur Luftlinie, aber wer meint, in Süddeutschland studieren zu müssen, der muss damit rechnen.
Melancholisch denke ich an unsere legendären Auswärtsfahrten, unsere gemeinsamen Erlebnisse im Stadion und unsere bedingungslose Hingabe für den Verein. „Hurra, die Woche ist vorbei, es ist so weit, wenn das LEBEN beginnt …“, das ist es, warum ich bei jedem Vorverkauf da sitze. Mit drei Handys aufm Tisch, dem Laptop daneben. Dieses unbeschreibliche Gefühl, wenn der Block die Stimme erhebt und man seine wirkliche Persönlichkeit ans Tageslicht ruft. Man lebt. Befreit von den ganzen Dingen, die einen die Woche über belasten. Arbeit, Studium, Schule, Konflikte und so weiter. Einen ganzen Nachmittag einfach raus aus dem alltäglichen Trott, das ist, was die Droge Borussia, neben dem Sport an sich, ausmacht.
Da sind dann noch die Menschen mit einem im Block, über die jeder, der regelmäßig im Stadion ist, ob zu Hause oder auswärts, ganze Bücherbände schreiben könnte. Es sind die Menschen, die du im normalen Umfeld nicht kennen lernen kannst, weil du sie zum einen nicht triffst, zum anderen halten sie, wie man selbst, diese Teile der Persönlichkeit unter Verschluss, die man im Block offenbart.
In genau diesem werden wir diese Saison so oft es geht sein und morgens um 8:30 Uhr am Telefon hängen, um diese Bücherbände weiterschreiben zu können.
Auf eine erfolgreiche Saison, mit viel Emotionen, schönen Erinnerungen und zwei Derbysiegen!
geschrieben von Denis
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