Besuch aus Argentinien
Am 3. Mai ist Sebastian Andrade aus Argentinien in Deutschland angekommen. Mit dieser Reise erfüllt er sich selbst einen Lebenstraum, denn er ist seit 20 Jahren BVB-Fan. Gemeinsam mit uns erlebt er das Saisonfinale vor Ort, im Stadion, in Dortmund, unterwegs.
„Ich will dir danken, Borussia, für die Zuversicht, die es bedeutet, dich wieder dort zu sehen, wo du mit den Besten zusammenkommst. Zu sehen, wie sich deine Größe auf den Tribünen und in deinen Farben widerspiegelt. Danke für dieses Gefühl, das du in mir auslöst, wenn ich dich wieder dort oben thronen sehe – dort, wo du hingehörst und von wo du niemals hättest fortgehen dürfen."
Diese Worte stammen von Sebastian Andrade, 36 Jahre, aus Buenos Aires. Hauptstadt von Argentinien und sicherlich eine der schillerndsten Städte im Weltfußball. Die Metropolregion von Buenos Aires hat Ballmagier hervorgebracht wie Diego Maradona oder Alfredo di Stefano. Hier findet sich die weltweit höchste Dichte an Stadien und Vereinen, nicht selten in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander und nur durch wenige Straßen getrennt, oft vereint in leidenschaftlicher Rivalität. Aktuell sind 12 der 20 Mannschaften der Primera División, der höchsten argentinischen Spielklasse, aus der Metropolregion von Buenos Aires – in den weiteren Ligen verhält sich das nicht anders. Fußball ist einer der großen Lebensinhalte. Diese Geschichte ist unglaublich und vermutlich würde ich sie nicht glauben, hätte ich sie nicht selber erlebt; hätte ich Seba nicht persönlich kennengelernt.
Seba hört zum ersten Mal vom BVB als 1993 Leonardo Rodríguez nach Dortmund wechselt. Zuvor hatte Rodríguez, damals Lieblingsspieler von Seba, unter anderem bei San Lorenzo gespielt (Club Atlético San Lorenzo de Almagro), der Verein aus dem Herzen von Buenos Aires, dem Sebastian und seine Familie seit jeher angehört. Mit dem Wechsel ist das Interesse für Borussia geboren. Auch wenn Rodríguez nur wenige Einsätze in der Bundesliga erhält, Sebas Interesse für Dortmund ist schnell geweckt und was er sieht, macht Eindruck auf ihn. Diese Hingabe, die Menschen, die Art, wie im Ruhrgebiet Fußball gelebt wird, das alles erinnert ihn an die Art, wie die Menschen in Argentinien Fußball leben.
Es sind gute Zeiten. Unter Ottmar Hitzfeld wächst Borussia zu einem Giganten, feiert einige seiner größten Erfolge. Es ist schwierig, in Südamerika an Informationen über Borussia zu kommen, sie kommen nur stückweise und unzusammenhängend, können nur schwer Sebas wachsenden Hunger stillen. Aber das Wenige, was ankommt, reicht. Leonardo Rodríguez ist zwar nach kurzem Aufenthalt bald weitergezogen, doch Sebas Liebe zum BVB bleibt. Zu der Zeit hat er nicht die Möglichkeit, die Dortmunder Geschicke online zu verfolgen, wie heutzutage, kein eigener Rechner zuhause und die Berichterstattung ist mager. Im argentinischen Fernsehen findet die Bundesliga praktisch nicht statt. Lange Zeit ist seine einzige Verbindung zu Borussia, seine einzige Informationsquelle, ein BVB-Fan aus den USA, der eine kleine Fanseite betreibt. Diese Zeit stellt Seba so dar: „Ich bin fast wahnsinnig geworden. Nach der Arbeit bin ich oft zum Internetcafé gerannt, habe mich mit dem Typen verabredet und er erzählte mir, was es Neues gab aus Dortmund. Wir haben uns auch zu den Spielen ‚getroffen', er hat mir dann beschrieben, was er sah, wie bei einem Live-Ticker." Tore, Siege, Niederlagen – so Fußball zu erleben, ist außergewöhnlich. Am schlimmsten ist es 2005. „Du schaltest den Rechner ein und weißt nicht, ob dein Verein noch existiert..."
Im Jahr 2011 entscheidet sich Sebastian – Borussia Dortmund spielt begeisternden Fußball unter dem Trainerstab von Jürgen Klopp und Željko Buvac, hinter den Kulissen halten Susi Zorc und Aki Watzke die Fäden in der Hand – entscheidet sich Sebastian also, dem Verein zu schreiben. Einfach nur, um seinen Dank zum Ausdruck zu bri ngen für die vielen schönen Momente und die Jahre einer wundervollen Leidenschaft. Er spricht kein Deutsch, schreibt deshalb auf Englisch. Die E-Mail, die er schreibt, erreicht Jens Volke und der hat eine Idee: Zur selben Zeit lebt in Buenos Aires ein weiterer Borusse, Jan-Henrik ‚Janni' Gruszecki, der in Dortmund ein bekanntes Gesicht ist und Borussia, vorsichtig ausgedrückt, in- und auswendig kennt. Janni erinnert sich: „Er schrieb Jens eine Mail, der diese daraufhin an mich weiterleitete. Wir haben uns zu 'nem Bier verabredet und festgestellt, dass wir nur wenige Meter auseinander wohnten." Bei Janni hat sich in dieser Zeit eine kleine Gruppe von Borussen eingerichtet, Deutsche und Argentinier, zusammengeführt durch eine mehr oder weniger große Schwäche für den Ballspielverein. Gemeinsam schaut man die Spiele und wird Zeuge, wie es dem amtierenden deutschen Meister allmählich gelingt, die Saison Richtung Titelverteidigung umzubiegen. Diese Nähe zu Gleichgesinnten festigt Sebas Zugehörigkeit zu Borussia; er selbst drückt es so aus: „Es ist schier unglaublich, das Leben bringt dich mit Menschen von der gegenüberliegenden Seite der Welt zusammen, auf ganz unerwartete Weise, die dieselbe Leidenschaft leben wie du, eine Leidenschaft ohne Gleichen. Und es ist dieses Gefühl, das dich mit ihnen vereint."
Kurz vor Saisonende packt den deutschen Teil der Gruppe das Heimweh und man zieht nach Dortmund, zu stark ist die Sehnsucht nach dem, was gerade in der Heimat abgeht. Seba bleibt zurück. Es bleibt in der Folgezeit ein intensiver Kontakt über e-mail, Facebook etc. Unter anderem hat sich mittlerweile eine kleine Gruppe von Borussiafans in Lateinamerika auf Facebook zusammengefunden und wächst stetig, nicht zuletzt getragen durch Titelverteidigung, Pokalsieg und die mitreißenden Auftritte im Europapokal in der neuen Saison. Ins Leben gerufen hat die Gruppe ebenfalls Janni Gruszecki. Und während die Borussiafans aus Dortmund durch das Land und durch ganz Europa reisen und überall, wo sie vorbeikommen, ähnlich Eindruck hinterlassen wie ihre Mannschaft, verfolgen die Lateinamerikaborussen von Texas bis Feuerland das Ganze am Bildschirm, mit einer ähnlichen Begeisterung wie Seba die 20 Jahre zuvor.
Seba ist einer der Moderatoren der Gruppe, mit seinem Beispiel lebt er den Mitgliedern vor, was Borussia bedeutet. Ungeachtet der Distanz – mit seiner ihm eigenen Leidenschaft. Nach den Spielen vom BVB finden sich regelmäßig Einträge von ihm im Forum der Gruppe, nicht selten 20 oder mehr, in denen Seba das Gesehene beschreibt, Stadion, Mannschaftsaufstellungen, Spielzüge, Tore, vergebene Chancen, Siege, Freud und Leid – kaum sonst jemand ist in der Lage, am anderen Ende der Welt an einem Rechner sitzend eine so spektakuläre Serie von Ohnmachtsanfällen aneinanderzureihen. Auch bei einem 5:0 in Bremen.
Die Spiele verfolgt er im Internet, zuhause oder bei der Arbeit, in einem Fachgeschäft für Farben und Malereizubehör. „Meine Kollegen bei der Arbeit kennen bereits alle Borussia und beginnen allmählich zu verstehen, was Borussia bedeutet. Anfangs haben sie sich über mich amüsiert, das hat sich mittlerweile geändert – sie kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus, und sehen, wie immens Borussia ist – dieser einzigartige Verein, der die Menschen in ihrem Leben begleitet, ebenso wie die Menschen, die den BVB begleiten!! Und es macht mich stolz dazuzugehören."
Wir schreiben uns häufig und sprechen dabei über alles Mögliche, Gott
und die Welt, das Leben, Musik, Liebe, Politik, unsere beiden Welten;
natürlich auch über Fußball, die goldenen Zeiten unter Hitzfeld, in
denen wir gleichzeitig Fan geworden sind. Die Zeiten von heute,
analysieren die gesehenen Spiele, feiern die Titelverteidigung und den
Pokalsieg, die neue Saison; Borussia international; gemeinsam haben wir
die Nachricht online verfolgt: Nuri is back. Und bei aller Freude und
Wertschätzung für das Erlebte erinnert er immer wieder an den Fall
Molsiris - die Zeit, als Borussia beinahe aufgehört hätte zu sein. Er
ist sich darüber bewusst, aus welch unheilvoller Vergangenheit die
goldene Gegenwart gehoben wurde, sie bedingt. Und er mahnt, niemals zu
vergessen.
Sein Fußballverständnis und seine Art, Fußball zu leben, sind geprägt von Ästhetik, bedingungsloser Hingabe und grenzenloser Freude, die beizeiten bis in die Poesie hineinreicht. Vor dem Hinspiel gegen Real Madrid im Halbfinale der Champions League schreibt er: „Borussia Dortmund, du bist mein Leben, und der kommende Mittwoch wird dich – nach all dem, was wir gemeinsam durchlitten haben – wieder in einer privilegierten Position sehen. Eine Position, von der du für mich niemals gegangen bist."
Bereits zu Beginn der Saison 2012/13 ist die Entscheidung getroffen, nach Dortmund zu reisen, das Geld für die Reise zusammengespart, um die 11529 Kilometer zwischen Buenos Aires und Strobelalle endlich zu überwinden. Seba beschreibt es so: „Das habe ich gebraucht, es wurde nötig für mich, dieses Gefühl aus der Nähe zu erleben. Ich bin so glücklich, dass sich dieser große Traum erfüllt."
Sein erstes Spiel in Deutschland war am 4. Mai das Bundesligaspiel gegen Bayern München im Westfalenstadion. Unter der Woche gab es das Halbfinale im Westfalenpokal der A-Jugend gegen Bochum und in der Roten Erde die Amateure gegen Erfurt. Am Samstag ging es mit dem Sonderzug nach Wolfsburg.
Und auch in den kommenden Wochen wird er auf den Pfaden des BVB wandeln, dem Verein folgen und die Farben vertreten, als einer von Vielen, und doch mit seiner ganz eigenen Art. Für vier Wochen hat unser Freund die Möglichkeit, einen Lebenstraum zu erfüllen und das zu erleben, was wir Borussen wie selbstverständlich leben: unseren Tempel und diese Begeisterung, die vom BVB ausgeht. Das letzte Spiel vor seiner Rückreise nach Argentinien findet am 25. Mai in Wembley statt. Wirklich, wenn diese Geschichte nicht wahr wäre, sie wäre absolut unglaublich. Bienvenido, herzlich Willkommen in deiner zweiten Heimat! Oder wie Seba es einmal ausgedrückt hat hat: „Vamos Borussia, Heja BVB!"
geschrieben von Christoph Holtz
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