Die Bekloppten von Dortmund haben gespielt
"Spielen die Bekloppten von Dortmund wieder?", fragt die im Fenster einer Nordstadt-Erdgeschosswohnung hängende ältere Frau mich, als ich mich am Freitag auf den langen Weg ins zweite Meisterwochenende mache. Ich bin vollkommen perplex und antworte im Vorbeigehen "schon". Dann beginnt das Wochenende. Wie im letzten Jahr gibt es wieder den Borussia Hearts Club. Die Meisterfeier im kleinen Kreis. Malte Dürr berichtet über Jugendauswärtsspiele im Sauerland, Felix Meininghaus, der sg.de-Sitzplatznachbar im Stadion, liest einige seiner Texte, Der Wolf ist gekommen, Klaus Neuhaus sowieso.
Doch der Abend und somit das Wochenende beginnt damit, dass wir uns von Florian Kringe verabschieden. Für eine halbe Stunde sitzt er da auf der Bühne und erzählt von seiner Karriere. Das Meisterwochenende ist, anders als im letzten Jahr, auch ein wenig das Wochenende der Abschiede. Neben Kringe werden auch Lucas Barrios und Antonio da Silva den Verein verlassen. Für Josef Schneck ist es das letzte Liga-Wochenende als Pressesprecher, für Kagawa könnte es der letzte Auftritt im Westfalenstadion gewesen sein. Und auch die Unschuld ging ein wenig dahin. Aber der Reihe nach. Der Samstag beginnt mit einem Platzregen. Nicht gerade Voraussetzungen für eine große Feier, nicht gerade Voraussetzung für die Diskussionen an der Bude, die unweigerlich geführt werden. Aber die Wirte im Kreuzviertel sind gut vorbereitet, haben ihre Schirme aufgespannt und die U-Bahn-Station Kreuzviertel ist ohnehin immer überdacht. Das passt also schon.
Die Frage, die man sich heute stellt, ist ob wir wirklich die fabulösen 81 Punkte erreichen werden. Und ob, manch einer findet das jetzt vermessen, wir auch 81 Toren erzielen können. Vor dem Stadion herrscht ein buntes Treiben, die Freiburger haben sich da schon unter die Dortmunder gemischt und voller Vorfreude geht es rauf auf die Tribünen. Auf der Süd wurden 2.300 Fahnen verteilt, im restlichen Stadion hat der BVB-Medienpartner Ruhr Nachrichten mit 40.000 Schalenimitaten nachgeholfen. Unten auf dem Platz ist vor der Osttribüne die Schale drapiert, näher wird man an diesem Tag kaum noch drankommen. Doch erst einmal werden auf dem Rasen die Spieler verabschiedet. Noch einmal die Welle vor der Süd. Noch einmal das Bild als BVB-Profi. Das Bild, das sich einbrennen muss. Toni da Silva, der den Ball in den Winkel zirkelte, Lucas Barrios, der Borussia auf ein neues Level gehoben hat, und sich dann verletzte, und Florian Kringe, der drei Mal Deutscher Meister wurde und in den Meisterjahren kaum Spielzeit hatte. Noch regnet es. Auf der Nord haben sich zahlreiche Borussen unter die Freiburger gemischt. Als dann die Mannschaften ein letztes Mal in dieser Saison im Westfalenstadion einlaufen, ist die Schale längst wieder verschwunden, dafür bietet die Süd ein beeindruckendes Bild. Eingerahmt von zwei Sterne wird zu den Fahnen noch ein Banner hochgezogen. „Die Fahnen wehen und alle stimmen ein – Du sollst ewig Deutscher Meister sein“
Der Deutsche Meister steht auf und der Deutsche Meister legt auf dem Platz gut los. Das Spiel ist früh entschieden. Je zwei Tore von Lewandowski und Kuba sorgen bereits in der ersten Halbzeit für klare Verhältnisse. Der junge Freiburger Torhüter Daniel Batz ist bei den Treffern chancenlos, und das Projekt 81, vor mehr als zwei Jahren von schwatzgelb.de gestartet, endlich abgeschlossen. Auf der Südtribüne sind erste Bengalos zu sehen. „Ihr schadet dem Verein“, wird über die Lautsprecher erklärt. „Macht die Bengalos aus!“, wird nachgesetzt. Wobei sich die Frage stellt, wie das gehen soll. Unten auf dem Rasen aber geht es noch um den 81. Treffer der Spielzeit. Dass die Mannschaft auch diesen erzielen will, sieht man in der 34. Minute bei der Szene des Spiels. An der Eckfahne schmeisst sich der wieder einmal starke Ilkay Gündogan in einen Zweikampf. Da steht es bereits 3-0, aber die Art und Weise wie Gündogan diesen Zweikampf annimmt und einen bedeutungslosen Einwurf an der Eckfahne gewinnt, lässt eher auf einen 0-1 Rückstand in einem entscheidenden Spiel schließen. Vor der Pause aber wird es nichts mehr mit dem fünften Treffer. Es wäre auch vermessen.
Noch bleiben den Borussen 45 Minuten für das letzte, zugegeben künstlich hochgejazzte, Ziel dieser Saison. In der Pause wird jedoch erst einmal der Schweizer Sedar begrüßt, der in den letzten zwei Wochen zu Fuß nach Dortmund gelaufen ist. In der zweiten Halbzeit dauert es ein wenig, bis das Spiel wieder an Fahrt aufnimmt. Im Stadion vertreibt man sich derweilen die Zeit mit „Nie mehr zweite Liga“ und „Deutscher Meister ist nur der BVB“-Gesängen. Der Auftritt der Freiburger Fans, die nun auch nichts mehr zu verlieren oder gewinnen haben, ist großartig. Die Reaktion der Dortmunder Fans auch. Es ist ein schönes Bild, das jetzt auf dem Platz auch nicht mehr getrübt wird. Lewandowski gelingt es noch 2x den Ball an Latte oder Pfosten zu platzieren, der vollkommen freistehende Schmelzer will Lewandowski noch einmal auflegen, doch der Ball gelangt nicht ganz bis zum 22-Tore Mann. Nur einmal wird es noch ruhig im Stadion. Da rasseln Subotic und Freis mit den Köpfen zusammen und Freis wird mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert. Dann wird es ab der 70. Minute richtig laut im Stadion. Das Spiel auf dem Rasen ist jetzt egal und die Zäune noch nicht besetzt. Immer wieder versucht der Freiburger Anhang die Welle, irgendwann klappt es. Und zum ersten Mal läuft die Welle von der Nord über die Ost auf die Süd zu. Das hat noch niemand in diesem Stadion geschafft. Gratulation, Freiburg. Sie wollten mitspielen und durften es laut Trainer Streich auf dem Rasen nicht, da nahmen sie sich die Tribünen und dominierten sogar für ein paar Minuten.
Die Uhr tickt langsam runter, auf der Süd brennen die Bengalos, kurz vor Schluss wird der Kick noch einmal für ein paar Minuten unterbrochen. Die Stimmung kippt ein wenig. Direkt nach dem Abpfiff geht auf der Süd ein Tor auf, und die ersten Fans bewegen sich auf das Spielfeld. Noch können die Ordner die Situation kontrollieren. Auf der West, in weiter Ferne, steht die Meisterschale. Die Mannschaft, angeführt vom auf Krücken laufenden Owomoyela, läuft als kleiner gelber Punkt die Stufen hoch, die Spieler holen sich die Meistermedaille ab, und kurz bevor Kehl die Schale in die Luft halten kann, wird unten der Platz gestürmt. Für einen kurzen Moment herrscht Stille über die Lautsprecher, dann wird einfach weitergemacht. Auf der Süd selbst ist es in diesem Moment unfassbar eng, die Leute stürmen durch die Mundlöcher in den Block und durch das offenen Tor auf den Rasen. Unangenehme Minuten für die im Block stehenden Fans.
Während Großkreutz mit den Fans singen will und so fern steht, ist der Platz längst gestürmt. Von oben sieht das gut aus. Es bleibt alles ein wenig unglücklich. Jetzt darf die Mannschaft nicht mehr auf den Platz, es gibt keine Ehrenrunde, die aber dann eben in Berlin mit dem Pokal nachgeholt werden wird. Die Ordner auf der Ost wirken ein wenig übereifrig, rennen ein paar Leuten hinterher und verweisen sie des Platzes. Vor der Nord hat sich eine Polizeikette aufgebaut, will die Freiburger und Dortmunder trennen. Ziemlich unnötig, da Fans beider Vereine gemeinsam feiern. Die Freiburger auf dem Block, wir auf dem Rasen. Es bleibt ein seltsamer Verlauf, der auch auf der PK seinen Gang nimmt. Klopp und Borussia sind irgendwie schon beim Pokalfinale. Man werde sich, sagt Klopp, morgen früh zu einem gemeinsame Frühstück treffen, heute abend natürlich noch ein wenig feiern, aber eben nur ein wenig. Es ist nur zu verständlich. Die große Chance das Double zu holen, gibt es so schnell nicht wieder. Es wäre die Krönung dieser unglaublichsten Saison, die aus dem schlechtesten Meister aller Zeiten den besten Meister aller Zeiten gemacht hat. Einmal rennt Weidenfeller durch den Raum und steht hinterher auf der Ost, reckt die Schale von dort noch einmal in den Dortmunder Himmel.
Dann leert sich das Stadion langsam. In der Stadt geht die Feier weiter, im Kreuzviertel spielen Casino Express auf. Der große Hit Rubbeldikatz am Borsigplatz. Die Borussen stehen zusammen, feiern, singen und tanzen. Hin und wieder kommen ein paar Tropfen zum Himmel und in Gedanken sind alle bereits in Berlin. Für das große Ziel – das erste Double der Vereinsgeschichte. Aber die Feier heute geht bis spät in die Nacht und alle sind stolz auf ihren Verein, auf das, was der Verein erreicht hat, was der Verein bedeutet. Am nächsten Morgen steht ein Paar mittleren Alters am Dortmunder Hauptbahnhof. Die Frau hält die Schale in der Hand. Die Bekloppten von Dortmund haben wieder gespielt und haben ganz ordentlich gefeiert.
Borussia Dortmund: Weidenfeller - Piszczek, Subotic, Hummels, Schmelzer - Gündogan, Kehl - Kuba, Kagawa, Großkreutz - Lewandowski
SC Freiburg: Batz - Mujdza, Ginter, Höhn, Sorg - Schmid, Guédé, Makiadi, Caligiuri - Rosenthal - Freis
Einwechselungen: 54. Götze für Piszczek, 65. Perisic für Kagawa, 81. Barrios für Kuba - 31. Flum für Rosenthal, 77. Putsila für Freis, 82. Hinkel für Mujdza
Tore: 1:0 Kuba (5., Gündogan), 2:0 Lewandowski (21., Subotic), 3:0 Lewandowski (27., Piszczek), 4:0 Kuba (39., Kagawa)
Eckstöße: 3:1 (Halbzeit 2:0), Chancenverhältnis: 10:1 (7:0)
Schiedsrichter: Sippel (München), Gelbe Karte: Makiadi
Zuschauer: 80.720 (ausverkauft)
steph, 07.05.2012