Mein Gänsehautmoment: Zwischen Enttäuschung und Ekstase
An diese Stelle präsentieren wir Euch den ersten Gewinner unseres Gänsehautmoment-Gewinnspiels. Wir hatten unsere Leser gebeten, uns ihren persönlichen Gänsehautmoment aus der letzten Saison zu schildern, die ja nun wirklich genug Anlass für Ganzkörper-Gänsepelle geboten hat. Heute schildert Euch Leon seinen ganz persönlichen Gänsehautmoment, der sich seltsamerweise außerhalb des Stadions abgespielt hat.
Als ich das Gewinnspiel von schwatzgelb.de las, bei dem es um Gänsehautmomente ging, fiel mir sofort der 21. April 2012 ein. Der Tag, an dem der Ballspielverein Borussia Dortmund zum achten Mal Deutscher Meister wurde. Naja, ehrlich gesagt fängt bei mir dieser ganz besondere Moment am 19. April an. Es ist ein Donnerstag. Ich bin kein Dauerkartenbesitzer und habe es bisher trotzdem geschafft, bis auf ein Heimspiel alle zu sehen sowie zehn Auswärtsfahrten mitzumachen. Vor einem Jahr war ich dabei, damals gegen Nürnberg – für mich bis heute ein unerreichbarer Tag in meinem Leben. Schließlich bin ich als 17-Jähriger in der Zeit zwischen 2004-2007 quasi besonders abgehärteter Borusse. Deshalb war klar, dass ich auch diesmal unbedingt im Stadion dabei sein muss, wenn der Ballspielverein den Titel verteidigt.
Meine üblichen Karten-Quellen gingen diesmal selbst ins Stadion, ich machte mir, die Enttäuschung verdrängt, schon aus, wo ich das Spiel in welcher Kneipe gucken werde. Wie gesagt, es war Donnerstag, um 19 Uhr herum. Ich bekomme einen Anruf von einem näheren Bekannten: „Hi, du hattest mich vorgestern nach einer Karte gefragt. Ich hab eine für dich“, lauteten die kurzen Worte, die einschlugen wie das Freistoßtor von Toni da Silva in der Nachspielzeit. „Wat?“, frage ich. „Ja, ein Freund von mir hat eine für dich“. Unbeschreiblich. Sollte ich tatsächlich wieder so ein Glück haben? Nun ist es Samstag, voller Vorfreude gehe ich mit meinem besten Kumpel (der eine Dauerkarte hat) in Dortmund im Alex Bayern vs. Werder sehen, dank 18.30 hat man ja noch ein wenig Zeit. Meister vorm TV? Nää, lieber nicht. Nach der Halbzeit verabschiede ich mich mit meinem Kumpel von anderen Freunden, die auch das Dortmund-Spiel im beliebten Café an der Reinoldikirche sehen werden. „Bis nachher“, lauten die letzten Worte mit Hinblick auf die schon fast sichere „Meisterfeier“ am Abend. Mit der U-Bahn zum Stadion hört man es – das 1:0 von Bremen. Somit wären wir tatsächlich schon vor dem Spiel Meister.
Aber so kommt es (zum Glück) nicht. Bayern dreht das Spiel, theoretisch können Jupp und seine elf Vize-Bayern noch den Titel holen. Wo ich das ganze verfolge? Am Infopunkt an der Nordtribüne. Dort nämlich sollen mein „Kartengeber“ und ich uns treffen. Absolut seriös, zumal dieser „Kartengeber“ ein Freund meines Bekannten ist, von dem ich den Anruf bekam. Dessen Handynummer ließ er mir zukommen, so dass wir beide den Treffpunkt um 17.20 Uhr an der Nord ausmachten. Es ist 17.30: Naja, hat er sich wohl verspätet. Warteste noch einen Moment, denke ich mir. 17.40: So langsam könnte er mal kommen. Nun, wahrscheinlich hat sein Zug Verspätung. 17.45: Ich mache mich auf die Suche. Frage jeden x-beliebigen Typen, der um den Infopunkt verteilt steht. „Samma, bist du der mit der Karte für die Nordwest?“ – „Nene, das bin ich nicht.“ 17.50: Mittlerweile stehen in meinem Telefonausgang 23 versuchte Anrufe an meinen Kartengeber. Nun wird mir das zum Verhängnis, was ich so liebe – rund 80.000 Menschen im Westfalenstadion. Noch nie konnte sich mein zugegebenermaßen schlechtes Handynetz gegen die „Konkurrenz“ durchsetzen. Ich kann machen, was ich will, mein Handy kommt nirgendswo durch.
18.00: Meine Fresse, das kann nicht sein. Mittlerweile muss mich der ganze Infostand kennen. Wo verdammt ist der Typ mit der Karte? Ich frage jeden noch ein-, nein zwei- oder dreimal. 18.05: So langsam geht bei mir die Hoffnung flöten. Selbstvorwürfe machen sich breit. Warum hast du ihn nicht gefragt, wie er aussieht? Wohl ein Anfängerfehler. Mittlerweile zeigt mir mein Mobiltelefon 32 ausgehende Anrufe an. Nichts zu machen, kein Durchkommen, ich bekomme einfach kein Freizeichen. 18.10: Vor mir verprügeln sich zwei besoffene Dortmunder. Sofort kommt die Polizei, beide werden abgeführt. Mein Gott, wie kann man so dämlich sein? In gut zwei Stunden wird der BVB vermutlich Deutscher Meister und ihr prügelt euch in die Zelle, obwohl ihr ne Karte habt? Verrückte Welt! 18.20: Meine Hoffnung, das Spiel zu sehen, liegt momentan dort, wo der FC Köln steht – im Keller. Der Vorplatz lehrt sich, davor streiten sich noch illegale Ticketanbieter.
Ich stehe einsam davor, vor diesen Tempel. Ich rühre mich kaum, das Handynetz ist immer noch überlastet. Wobei mir nun schon klar ist, das wird nix, der Typ und ich haben uns verpasst, oder hat er mich einfach nur verarscht? 18.25: Versteinert stehe ich vor der Nordtribüne. Das kann doch wohl nicht wahr sein. Wie schnell kann denn bitte schön ein Traum platzen? Was nun? Nobby ruft zum letzten Akt auf, komisch das Stadionmikro außerhalb des Stadions zu hören. 18.27: Nun ist es Zeit zu handeln. Ich bin alleine am Infopunkt, die Karte fürs Meisterstück werde ich wohl nie bekommen. Mein Handy zeigt mir nun 46 versuchte Anrufe von mir an. Ich muss wenigstens das Spiel sehen, denke ich mir. Mit einer Mischung von Wut, Tränen und Enttäuschung entschließe ich mich in die Innenstadt zu gehen. Stop, gehen? Rennen. 18.34: Höhe Westfallenhalle höre ich das Westfalenstadion „Deutscher Meister steh´ auf“ schreien. Nicht hinhören, sonst ärgerst du dich zu sehr. Ich renne weiter.
Ein respektables Stück bis zur Innenstadt liegt vor mir, die Schweißdrüsen öffnen sich. 18.39: Die Kneipen sind bis zum letzten Platz belegt, nein überfüllt. Auf einmal, kurz vor der Lenz-Stube, laufe ich an einer Haus-Einfahrt vorbei. Ich schaue kurz rein. Doch dieser Augenblick sollte sich für immer in mein schwarzgelbes Herz brennen. Ein scheinbar obdachloser Mann sitzt dort mit einem Dortmund-Schal umschlungen und hört Radio, auch er verfolgt das Spiel, und zwar nicht im Stadion. Noch nie wurde mir so klar, was dieser Verein für Menschen bedeuten kann. Dieser Moment, der mir heute noch Tränen in die Augen schießen lässt, werden ich nie vergessen. 18.49: Nachdem ich nach 20 Minuten die City erreicht habe, schlinge ich mich durch die Massen und erreiche schließlich das Alex, in dem meine Freunde vom Bayern-Spiel noch sitzen müssten. Sitzen sie auch. Nach einigen Überredungskünsten mit dem Security-Dienst bin ich dann in Minute 22 tatsächlich dort.
Die letzten Minuten, nein Sekunden vor dem Abpfiff, erlebe ich wie in erstarrter Eisberg. Ich schaue auf den Bildschirm, sehe die feiernden Fans. Eigentlich hätte ich dort stehen müssen, wie in der gesamten Saison. Nun steh ich aber in einem überfüllten Café. Eine Freundin tröstet mich, nimmt mich in den Arm. Ich weine trotzdem. Wohl noch nie hatte ich eine Mischung aus Trauer- und Freudentränen. Das schafft nur Borussia Dortmund. 20.17: Abpfiff: Deutscher Meister. Fassungslosigkeit nach diesem von Ereignissen nicht zu übertreffenden Nachmittag. Ich werde diesen 21. April, diesen Tag zwischen absoluter Enttäuschung und Ekstase nie vergessen. So wie damals, 2004/2005 und jetzt, 2011/2012. Es ist nur einer, aber der wohl gänsehäutigste Moment, den ich je mit Borussia Dortmund erlebt habe. Doch auch dafür bin ich dankbar. Den Obdachlosen in BVB-Kluft und Radio wird nie aus meinem Gedächtnis verschwinden. Und auch eine weitere Erkenntnis habe ich gewonnen: Demnächst schaffe ich mir ein Handynetz an, das auch in der Lage ist, vor oder im Stadion zu funktionieren.
Borussia Dortmund – für immer Deutscher Meister.
geschrieben von Leon
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