Nuri Sahin, der verlorene Sohn
"Irgendwann", sagte Nuri Sahin einmal dem "kicker", "irgendwann werde ich diese Mannschaft führen können." Das war im Juli 2007 und zu diesem Zeitpunkt nicht mehr wert als eine kleine Randnotiz. Damals war Nuri, geboren in Lüdenscheid, erst 18 Jahre alt und wurde von Thomas Doll aus dem Bundesligakader aussortiert. Für ein Jahr ausgeliehen nach Rotterdam und damit zurück zu seinem einstigen Förderer in Dortmund, Bert van Marwijk.
Ein Jahr später kehrte der zielstrebig Türke zwar verletzt, aber als frisch gebackener holländischer Pokalsieger zurück in die Bierhauptstadt. Mittlerweile hieß der Trainer beim BVB Jürgen Klopp, welcher den BVB nach den grauen Jahren der Bedeutungslosigkeit zurück an die Spitze führen sollte. Das wusste zu diesem Zeitpunkt allerdings noch niemand. Und ausgerechnet dieser Jürgen Klopp war anfangs gar nicht so begeistert vom jungen Nuri Sahin. Er attestierte dem Rückkehrer eine unprofessionelle Reha. Bei einem entsprechenden Angebot hätte der BVB ihn ziehen lassen. Nuri wartete also weiter auf seine große Chance.
Doch der BVB ließ ihn nicht ziehen. Und am 26. Februar 2011 dann, weitere zweieinhalb Jahre später, führt Nuri Sahin die jüngste BVB-Mannschaft aller Zeiten als Kapitän auf das Feld der Münchener Allianz Arena. Was folgt ist eine 90-minütige Machtdemonstration des kommenden Deutschen Meisters gegen den Titelverteidiger aus München. Der türkische Jungnationalspieler ist dabei einmal mehr Denker und Lenker auf der „Sechs“, hat – wie immer – die meisten Ballkontakte und steuert in der 18. Minute auch noch ein Traumtor zum zwischenzeitlichen 2:1 bei.
Seit dem Juli 2007 ist viel passiert. Beinahe aussortiert entwickelte sich Nuri zur wichtigsten Person der Dortmunder Kreativabteilung. Als das Wort „Antizipation“, also Vorhersehen eines zukünftigen Verhaltens und Erlebens, Einzug in den deutschen Fußballwortschatz erhielt, da schien es, als sei der Begriff prädestiniert für einen Spieler wie Nuri Sahin. Eine brillante Technik, gedankenschnelles Umschalten, präzise Freistöße und die Fähigkeit, von beinahe jedem Fleck des Platzes einen tödlichen Pass zu spielen, prägen Nuris intelligentes Spiel und damit auch das des gesamten Teams. Die Meistersaison 2010/2011 ist der finale Höhepunkt seiner schwatzgelben Laufbahn, die im Alter von elf Jahren begann.
Sein Traumtor aus 25 Metern im ersten Heimspiel gegen das VW-Team, sein Freistoß im Hinspiel gegen die Bayern und seine Zuckerpässe gegen Kaiserslautern bleiben ebenso in wohltuender Erinnerung wie sein Last-Minute-Jubel in Köln. Erst gegen Ende der Rückrunde wurden diese Glanzmomente in seinem Spiel seltener und er konnte die Erwartungen des omnipräsenten Lenkers nicht immer erfüllen. Nuri Sahin handelte für mich, bis auf wenige Ausnahmen, wie ein echter Vollblutprofi. Ein Bild will mir dabei nicht aus dem Kopf gehen: Sein großer Ärger über einen eigenen Fehlpass im Rückspiel gegen den VfL Wolfsburg. Dass das Spiel bereits in der 80. Minute war, Nuri zuvor einmal mehr eine herausragende Partie absolvierte und die Borussia darüber hinaus mit 3:0 führte, schien ihn dabei nicht zu interessieren. Nuri wollte immer das Maximum, am absoluten Limit spielen.
Auch wenn er, was seine öffentlichen Aussagen betrifft, am Ende seiner Dortmunder Zeit Fehler gemacht hat, die rückblickend einige Enttäuschung hätten verhindern können, bin ich ihm für seine elf Jahre als Dortmunder Junge dankbar. Es gab wohl selten einen Meister, der seinen Fans in einer Saison so viele wertvolle Momente schenken konnte. Nuri war daran als Kopf des jungen Teams maßgeblich beteiligt. Das "weiße Ballett", seinen großen Traum, hatte er dabei stets im Hinterkopf. Und trotzdem konnte er sich all die Jahre mit dem BVB identifizieren, trat uns Fans gegenüber jederzeit respektvoll auf.
Und so erfüllte Nuri sein Versprechen aus dem Juli 2007. Seine Mission in Dortmund ist, trotz rosiger Aussichten für den BVB, mit der Meisterschaft beendet. Im besagten „kicker“-Artikel fallen übrigens Namen wie Thomas Doll, Robert Kovac, Lars Ricken und Christian Wörns. Namen einer scheinbar längst vergessenen Zeit. Vergessen auch dank Nuri Sahin, einem Helden in schwatzgelb.