Béla Guttmann - Weltgeschichte des Fußballs in einer Person
Dortmund, 5. Dezember 1963: 41.500 zahlende Zuschauer, nach anderen Schätzungen sogar 60.000 Menschen strömen trotz klirrender Kälte ins Stadion "Rote Erde", um das Spiel zu sehen, das in die Vereinsgeschichte von Borussia Dortmund als das "Jahrhundertspiel" eingehen wird. Zu Gast im Rückspiel des Achtelfinals des Europapokals der Landesmeister war mit Benfica Lissabon die herausragende Mannschaft Europas in der ersten Hälfte der 1960er Jahre. Die Borussia gewann in einem überragenden Spiel verdient nach Toren von Konietzka, Wosab und dreimal Brungs mit 5:0. Die Weltstars um den geschonten Eusébio waren geschlagen.
Sogenannte Jahrhundertspiele gibt es viele und auch Benfica Lissabon kennt eines, das in der Geschichte des Weltfußballs objektiv wohl von noch größerer Bedeutung war: Den 5:3-Sieg über Real Madrid im Finale des Europapokals von 1962 im Amsterdamer Olympiastadion, mit dem die Vorherrschaft der Königlichen um Alfredo di Stéfano und Ferenc Puskás endgültig beendet wurde. Der Mann, der den Hauptverdienst an diesem Machtwechsel trug, stand an der Seitenlinie: Der ungarische Trainer Béla Guttmann.
In seiner 2006 erschienenen Biographie „Béla Guttmann – Weltgeschichte in einer Person“ kommt Detlev Claussen immer wieder auf diese bedeutende Partie zurück und beschreibt von ihr ausgehend die verschiedenen Lebensphasen Béla Guttmanns, der zu den Koryphäen seines Fachs gehörte und der mit Trainerlegenden wie dem Ukrainer Walerij Lobanowsky oder dem Niederländer Rinus Michels auf einer Stufe steht. Claussen hat allerdings keine reine Biographie geschrieben, sondern diese geschickt in eine Kulturgeschichte des Fußballs von den 1920er bis zu den 1960er Jahren eingefügt.
Wie seine beiden berühmten Kollegen war der 1899 geborene Guttmann vor seiner Trainerkarriere ein guter, aber kein überragender Spieler, der zwischen 1919 und 1926 zunächst für den ungarischen Verein MTK Budapest FC und den jüdischen Klub SC Hakoah Wien antrat. In diesen Jahren erhielt er seine wichtigsten fußballerischen Prägungen, die bestimmt waren vom schottischen Kurzpassspiel, das der Trainerpionier Jimmy Hogan im Donauraum etabliert hatte. Als 1924 in Österreich die erste Profiliga des Kontinents gegründet wurde, gewann Guttmann mit der Hakoah den ersten Profititel seiner Karriere. Dennoch war der Sport noch weitgehend in amateurhaften Bedingungen gefangen und Guttmann nutzte 1926 eine Amerikatournee seines Klubs, um in den USA, das für Europäer zu der damaligen Zeit eine enorme Anziehungskraft besaß, zu einem professionellen Verein zu wechseln. Zwar sollte sich rasch erweisen, dass die Verhältnisse in den Staaten keineswegs so paradiesisch waren wie erhofft, weshalb Guttmann sich als Tanzlehrer etwas dazu verdienen musste. Dennoch blieb er bis 1932 in Übersee.
Die Bedeutung eines Trainers für den Erfolg einer Mannschaft war in diesen Jahren noch umstritten und entsprechend rudimentär war das Training. Für einen Mann wie Guttmann, der sich immer bereitwillig auf neue Begebenheiten einstellte, bot sich hier ein enormes Reformpotential. Wie und wann er seine Trainerhandschrift erwarb, ist unbekannt, aber bereits in den 1930er Jahren bis zum Kriegsausbruch trainierte er zweimal die Wiener Hakoah, den Sportclub Enschede sowie Újpest Budapest. Mit den Ungarn gewann er 1939 sogar mit dem Mitropacup seinen ersten internationalen Titel.
Guttmann hat sich nie darüber geäußert, wie er als Jude den Krieg erlebt hat und so bleibt diese Frage ebenso ungeklärt wie die, ob er einmal ungarischer Nationaltrainer war: Manche vermuten dies für die Jahre 1947 oder 1948, andere sprechen von 1952. Unstrittig ist jedoch, dass er als Trainer verschiedener Budapester Vereine in den Jahren 1945 bis 1948 den Offensivstil der berühmten Aranycsapat, der von 1950 bis zum „Wunder von Bern“ 1954 in 31 Länderspielen ungeschlagenen ungarischen Nationalmannschaft, mitgeprägt hat. In diesen Jahren entwickelte er auch seinen Trainerstil immer deutlicher. Galt ein Trainer im Fußballgeschäft lange wenig, bestand Guttmann auf seiner uneingeschränkten Autorität: Als ihn ein Vereinsfunktionär von Újpest Budapest nach dem Sieg im nationalen Pokal 1947 zu einem Extratraining mit der Mannschaft zwingen wollte, zog Guttmann unmittelbar die Konsequenzen: „Wenn Sie, mein Herr, von Ihren Fachkenntnissen so überzeugt sind, bin ich hier vollkommen überflüssig. Bitte, Sie können gerne meinen Posten als Trainer übernehmen. Ich will Ihrer Trainerkarriere nicht im Wege stehen.“ Bei seinem nächsten Klub Kispest Budapest kam es zu einem ähnlichen Ende: Im Laufe einer Partie missachtete der Star der Mannschaft Ferenc Puskás eine Anweisung Guttmanns und dieser verließ darauf sofort den Spielfeldrand, setzte sich auf die Tribüne und fuhr gar nicht erst mehr mit der Mannschaft nach Hause, sondern schrieb seinen Kündigungsbrief: „Puskás hat mit seiner Tat meine Autorität bei den Spielern vernichtet! Damit ist die Grundlage für meine weitere erfolgreiche Arbeit mit Ihrer Elf zertrümmert.“ Später sollte er sich mit seinem schwierigen Star wieder versöhnen, und Guttmann übernahm 1956 die von Puskás angeführte Mannschaft von Honvéd Budapest, die sich beim Ungarnaufstand im Ausland befand und daraufhin im Exil blieb.
Bis auf dieses letzte Intermezzo bei Honvéd, das nicht länger als ein knappes Jahr währte, kehrte Guttmann jedoch in den 1950er Jahren Ungarn den Rücken und entwickelte sich zum wahren Weltenbummler, der Südeuropa sowie Lateinamerika erkundete. Für sein unermüdliches Angriffsspiel brauchte er kreative und technisch beschlagene Spieler, die er zunächst in Brasilien, dann aber vor allem in Portugal fand. Basierend auf einem hohen Trainingspensum (er ließ im Gegensatz zu den meisten Kollegen zweimal täglich trainieren) und zahlreichen Trainingslagern formte er diese Ballartisten zu konditions- und laufstarken Spielern, die oftmals ihren Gegnern überlegen waren. Seine erste portugiesische Station führte ihn in der Saison 1958/59 zum FC Porto, mit dem er gleich die Meisterschaft gewann. Zum Entsetzen der Fans wechselte er jedoch unmittelbar darauf zum großen Konkurrenten Benfica Lissabon, was er mit der ihm eigenen Professionalität begründete: „Ich bin ein internationaler Fachmann ohne Klubfanatismus. Mein ganzes Können verkaufe ich dem jeweiligen Klub für einen begrenzte Zeit. Wenn ich mit einer fanatischen Anhänglichkeit für einen Klub belastet wäre, könnte ich niemals voller Hingabe bei einem neuen Verein arbeiten. Das wäre bei meiner Spitzengage ein Betrug.“
Lissabon wurde Guttmanns erfolgreichste Station und nirgends blieb er länger – wenn auch nur drei Jahre. Er gewann nicht nur 1960 die portugiesische Meisterschaft, sondern 1961 erstmals den Europapokal der Landesmeister mit einem 3:2 in Bern über den FC Barcelona. Aber erst die Wiederholung dieses Triumphs 1962 im Spiel gegen Madrid manifestierte den Wachwechsel: Ferenc Puskás hatte die Madrilenen zunächst früh 2:0 in Führung gebracht und auch nach dem zwischenzeitlichen Ausgleich auf 3:2 erhöht, doch die fitten und laufstarken Portugiesen konnten in der zweiten Hälfte mit ihrem unerschütterlichen Offensivdrang und einem überragenden Eusébio die Partie drehen und gewannen 5:3. Die Vorherrschaft von Real, das den Europapokal zwischen 1956 und 1960 fünfmal für sich entscheiden konnte, war gebrochen.
Für Guttmann war dieser Sieg der Höhepunkt der Karriere und zugleich Beginn eines dauerhaften Abstiegs. Unmittelbar nach dem großen Triumph verließ er Lissabon im Streit, da ihm eine eingeforderte Gehaltserhöhung versagt wurde. Sein bei dieser Gelegenheit verkündeter Fluch, Lissabon möge für hundert Jahre keine internationalen Titel mehr gewinnen, hat bis heute – man denke an die jüngste Halbfinalniederlage gegen Sporting Braga – nichts von seiner Kraft verloren. Bei seinen späteren Klubs konnte er nicht mehr an seine früheren Erfolge anknüpfen.
Claussen schildert all diese Stationen Guttmanns mit einem sicheren Blick für die wichtigen historischen Entwicklungen im Weltfußball, mit denen der Ungar immer wieder verbunden war. Dazu gehören die Dominanz des Donaufußballs auf dem Kontinent in der Zwischenkriegszeit und der frühen Nachkriegszeit sowie die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, den der Fußball nach seiner Abkehr von seinen elitären Wurzeln bot. Wie ein roter Faden zieht sich die zunehmende Professionalisierung des Fußballs, zu deren Protagonisten Guttmann an erster Stelle gehörte, durch das Buch. Guttmanns Wanderzeiten in Nord- wie Südamerika zeigen zugleich, dass der Fußball in den frühen Zeiten des professionellen Fußballs weit weniger eurozentriert war wie es heute der Fall ist. Mit Claussens Guttmann-Biographie erfährt man nicht nur einiges über einen brillanten Fußballtrainer, sondern auch über die Anfänge des modernen Fußballs. Das Buch ist flüssig geschrieben, angenehm zu lesen und entsprechend unbedingt zu empfehlen.
Detlev Claussen: Béla Guttmann. Weltgeschichte des Fußballs in einer Person. Berenberg Verlag, Berlin 2006, 19,00 €.
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geschrieben von PatBorm
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