Berlin, Berlin? diesmal fahre ich nach Berlin!
Wir schreiben das Jahr 1989. Es hat beschissen angefangen für mich, dieses Jahr. Meine Freundin – nennen wir sie gerechter Weise im weiteren Verlauf dieses Textes einfach „blöde Kuh“ - hat mich im Februar verlassen. Nach über 2 Jahren, mitten in den Umzugsvorbereitungen in meine neuen Wohnung, die uns beiden als Nest dienen sollte, nachdem sie sich als Gast in meiner vormaligen WG zunehmend unwohl zu fühlen vorgegeben hatte. Und natürlich nicht, ohne mir auch gleich ihren Neuen zu präsentieren: „Guck mal, Holger, das ist der Manuel.“ Danke, blöde Kuh!
Rückblende:
Nein, es hat nicht gut angefangen, dieses Jahr 1989. Eingehüllt in einen alkoholgeschwängerten Kokon aus Zorn, Traurigkeit und Selbstmitleid vegetiere ich dahin, die Smiths, Cure, Joy Division und Co. sind meine Katalysatoren, Kleidung, Haare und Augen kann ich nicht schwärzer gestalten als die Gedanken an … die blöde Kuh.
Ich muß raus aus diesem Teufelskreis, muß wieder zu mir selbst finden, den Spaß am Leben neu entdecken. So kehre ich zurück zu meinen Wurzeln, kontaktiere alte Freunde, die meinem Blickfeld entschwunden waren und beginne wieder jene Dinge zu tun, die vor ihr meinen Alltag bestimmt hatten: Doppelkopfnächte, Streifzüge durch die Stadt, Fußball spielen und die Spiele des BVB besuchen.
Der BVB tut sein bestes, mir ein Stück Freude am Dasein zurückzugeben in diesem seltsamen Jahr 1989, insbesondere im Pokal:
Karlsruhe wird niedergerungen, das Halbfinale gegen Stuttgart ist nach dem Aufstieg in die Bundesliga und dem Relegationsirrsinn von 1986 absolut gleichwertig mein drittes auf ewig unvergeßliches Highlight als Borusse. Ich fühle, wie schön das Leben ohne blöde Kühe sein kann, ich lasse mich fallen in den euphorischen Taumel, der die ganze Stadt ergriffen zu haben scheint, ich lebe wieder!
Ich muß nach Berlin!
Jens (ein Jens, der niemandem von euch bekannt ist!) gibt kurz darauf großspurig bekannt: „Leute, ich besorge für uns alle Endspielkarten“ - Vitamin B und so. Wir vertrauen Jens, denn wir wissen, daß er tatsächlich über seinen Vater immer an Karten gekommen ist, die nie das Tageslicht einer Vorverkaufsstelle gesehen haben. Vertrauen ihm, bis es zu spät ist. „Hat nicht geklappt“, sagt Jens, nachdem alle Karten weg sind.
Der Schwarzmarkt für’s Finale läuft dieser Tage über Zeitungsinserate, 300,- DM für eine Karte sind nicht nur das 20fache des Originalpreises, sondern auch einfach jenseits der finanziellen Möglichkeiten eines Zivildienstleistenden. Über die Presse gibt die Berliner Polizei bekannt, es werde ein 1km breiter Ring um das Olympiastadion gezogen, Anreise ohne Ticket komplett zwecklos – ich Idiot glaube es.
Ich fahre also nicht nach Berlin, die Pläne werden umgestrickt, die kleine Lösung gewählt: Wir gucken daheim am TV, ist ja auch schön…
Irgendwann am Mittag des 24.06.1989 ruft mich dann Claudia an. Claudia ist mir eigentlich eine Freundin, der blöden Kuh ist sie in den letzten Jahren mal beste Freundin, mal Totfeindin gewesen, je nach Hormonlage, retrospektiv analysiert.
„Hast du schon von … (der blöden Kuh) und Manuel gehört? Die sind gerade in Berlin und haben sich am Stadion für 15,- DM Karten gekauft! Ist das nicht cool?“ Danke, Claudia! Danke, blöde Kuh! Danke, Holger, du Vollidiot!
Hier und jetzt:
Ich erinnere mich durchaus gern an das Spiel. Ich erinnere mich gern daran, wie wir nachher zum Borsigplatz gefahren sind. Ich erinnere mich gern daran, wie die Stadt am Abend des 24.06.1989 auch ohne die gut 40.000 in Berlin weilenden komplett auszurasten schien. Ich erinnere mich gern daran, am nächsten Morgen schon um 10:00 Uhr wieder in die City gefahren zu sein, und ich erinnere mich gern an den Empfang der Pokalhelden in ihrer, unserer Stadt.
Und doch werde ich mir niemals verzeihen, an diesem sagenhaften Tag nicht in Berlin, nicht vor Ort gewesen zu sein.
Dem guten offenbart sich mehr als eine Möglichkeit im Leben, der kluge begeht den gleichen Fehler nicht ein weiteres Mal. Am 19.04.2008 werde ich in Berlin sein. 19 Jahre habe ich auf diesen Moment des inneren Ausgleiches gewartet.
Berlin, Berlin, diesmal fahre ich nach Berlin!
geschrieben von Holger
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