The Return of the Ringelstutzen
Ein kurzer, persönlicher Rückblick voller Aberglaube, Opfern und Omen.
30. März 2007, 22:05 Uhr – der bis zuletzt absolut großartig aufgelegte Gästeblock der Bielefelder Alm verstummt, während der Rest des Stadions in kollektivem Jubel ausbricht. Jonas Kamper hatte gerade das 1-0 gegen meine Borussia erzielt und sie damit auf einen Abstiegsrang befördert. Die zuletzt leicht aufsteigende Tendenz im Spiel gegen Nürnberg war verschwunden, die Mannschaft schien nichts verstanden zu haben. Und während vom Zaun vergeblich versucht wurde, dem Block und der Mannschaft wieder Leben einzuhauchen, trat bei mir und immer mehr Borussen Resignation ein. Das berühmte Licht am Ende des Tunnels schien erloschen, alle Hoffnung verloren, Borussia abgestiegen? Doch es sollte anders kommen.
Eine Woche später war ich dank mangelnder Eintrittskarte an den heimischen Fernseher gebunden. Borussia war zu Gast auf dem Tivoli, Schwarz-Gelb gegen Schwarz-Gelb, Aachen gegen Dortmund. Ich verabredete mich mit Freunden, um das Spiel bei mir daheim zu verfolgen und gleichzeitig zu grillen. Schon beim Einkaufen bot sich ein Freund als Grillmeister an, wissend, dass er dadurch wahrscheinlich große Teile des Spiels verpassen würde – aber nach dem Auftritt in der Stadt, die es nicht gibt, erwarteten wir eh kein großes Spiel unserer Mannschaft. Ich scherzte noch, dass ich später einfach mal „Tooor!“ brüllen würde, um ihn zu veräppeln, bevor wir uns wieder zu mir begaben. Um 15:45 Uhr brach ich dann tatsächlich in ungläubigen Jubel aus, was meinen Freund dazu bewegte, sich beim Gang vom Grill zum Fernseher extrem viel Zeit zu lassen. Er verpasste die Wiederholung des 0-1 Führungstreffers durch Christian Wörns... und sollte an diesem Tag drei weitere Tore verpassen. Borussia gewann 1-4 in Aachen und hinterließ einige erstaunte Gesichter. Die Mannschaft zeigte plötzlich das genaue Gegenteil von der Leistung in Bielefeld, lieferte ein berauschendes Spiel ab und berauschte sich vor allem selbst.
Es folgte der ärgste Verfolger der Blauen. Der SV Werder aus Bremen besuchte uns im Westfalenstadion. Borussia hatte den Abstiegsrang nach dem Fest in Aachen zwar wieder verlassen, befand sich aber immer noch in akuter Bedrohung durch das Gespenst der zweiten Liga. Trotzdem gab es einige, die sich wünschten, dass Borussia verliert, damit Werder den Anschluss zu den Blauen behält und sie kurz vor Schluss noch abfangen kann. Borussia trat daheim im schwarzen Auswärtsdress an, welches mit schwarzen Hosen und schwarzen Stutzen kombiniert wurde – es sollte der bislang letzte Einsatz der einfarbigen Socken sein. Sommerstimmung in Dortmund, Bremen gewann souverän mit 0-2 an der Strobelallee und Diego war der bislang letzte, der es schaffte, Roman Weidenfeller zu überwinden. Borussia stand direkt an der Linie zu den Abstiegsrängen, doch die meisten schien dies nicht zu stören.
Die Fanabteilung lud wieder zur Sambafahrt, als die Hauptstädter eine schwarz-gelbe Invasion erwarteten. Nach der Sonderzugfahrt im Oktober gen Cottbus bestritt ich also auch meinen dritten Berlinbesuch mit der Bahn und sollte nicht enttäuscht werden. Markus Brzenska machte sich zu meinem persönlichen Helden der Sonderzugfahrten, als er kurz nach Wiederanpfiff die rund 8.000 (mitgereisten) BVB-Anhänger mit seinem 0-1 Siegtreffer beglückte. Zwar sollte unserer „Lebensversicherung“ Alexander Frei später noch ein weiterer Treffer gelingen, doch Peter Sippel verweigerte den Treffer. Der Schweizer sollte in der Woche darauf jedoch gleich doppelten Grund zur Freude haben.
Nach den Gastspielen in Bielefeld, Aachen und Berlin folgte mit dem Heimspiel gegen die Frankfurter Eintracht das vierte „Endspiel“ binnen eines Monats. Die Borussen trugen zwar den ungeliebten gelb-weißen Dress, ließen aber die schwarzen Stutzen im Schrank und zogen – wie auch in Berlin – gelb-schwarz gestreifte Socken über die Schienbeinschoner. Ob man es glauben will oder nicht, es scheint gewirkt zu haben. Zwei geniale Frei-Stöße markierten den 2-0 Endstand, welcher den Tempel der Glückseligkeit in lange vergessene Ekstase versetzte. Neben der La-Ola ging auch die Erleichterung durchs Stadion, da sich Borussia einen entspannten 5-Punkte-Vorsprung auf die Abstiegsränge erspielte.
Der 5. Mai brachte die Schwarz-Gelben in die ehemalige „Stadt des Kraft durch Freude-Wagens bei Fallersleben“, heute Wolfsburg. Gefühlte 11909 Borussen begleiteten unsere Mannschaft und machten die VW-Arena zur Außenstelle des Westfalenstadions. Borussia lief wieder in gestreiften Stutzen auf, Euzebiusz Smolarek netzte in seinem fünften Spiel gegen die Werkself zum fünften Mal ein und schon nach zwanzig Spielminuten tanzte der Block den BVB-Walzer. Euphorie und Enthusiasmus rissen auch nicht ab, als unsere Elf einige Großchancen vergaben und „Weide“ mehrfach glanzvoll parieren musste – ganz im Gegenteil! Als der halbe Block bereits von seinem T-Shirt befreit war, erzeugte Nelson Valdez um 17:18 Uhr mit seinem ersten Bundesligatreffer für Borussia den wohl lautesten Torschrei, den Wolfsburg je erlebt hat. Das Abstiegsgespenst war endgültig erfolgreich in die Flucht geschlagen, Nelsons Torfluch gebrochen und mir blieb vor Erleichterung und Rührung nichts übrig als den Tränen freien Lauf zu lassen. Doch das war noch lange nicht alles...
Die Woche vor dem Derby, dem wichtigsten Spiel des Jahres, begann mit der Gewissheit, dass der Abstieg abgewendet war. Der Super-GAU war unmöglich, doch die Blauen hätten immer noch die Meisterschaft in unserem Wohnzimmer feiern können. Dementsprechend angespannt war ich, freute ich mich doch schon seit Bekanntgabe des Termins auf dieses Spiel. Und genau an dieser Stelle – dem Termin – bekam ich Ende letzten Jahres ein kleines Problem. Meine geliebte Schwester plante ihren Lebensabschnittsgefährten zu ehelichen, nach Möglichkeit im Frühjahr 2007. Ich wies sie auf das Derby hin, sagte ihr, sie solle frühestens im Juli heiraten – doch das war vergebens. Als ich die Einladung in der Hand hielt, fiel mir die Kinnlade zu Boden: „Die Trauung findet am 12. Mai 2007 um 15:00 Uhr statt“. Sie hätte wahrlich keinen schlechteren Zeitpunkt wählen können, oder? In der Folge scherzte ich zwar, dass ich nicht kommen würde, doch nach und nach wurde aus dem Spaß immer mehr Ernst, erst recht, als ich immer häufiger hörte, dass ich das „doch nicht machen könne“. Die Derbywoche kam und ich erteilte meiner Schwester die endgültige Absage. Natürlich verstand sie es zuerst nicht, doch mein Schwager in Spe nahm mich glücklicherweise in Schutz („Lieber er geht zum Spiel, als dass er dann den ganzen Tag griesgrämig rumhockt, weil er es verpasst.“), sodass das befürchtete Familienchaos ausblieb. Das Derby rückte also näher, die Anspannung stieg, überall las man von Derbymärschen und Auseinandersetzungen.
Mittwoch besuchte ich mit einer Freundin eine Tierhandlung, sie suchte einen neuen Fisch. In die engere Wahl kamen ein roter Fisch, dessen Flossen fehlerfrei und „perfekt“ waren, sowie ein blauer Fisch, dessen Flossen ein wenig fetzig waren, dafür aber schimmerten. Als sie mich fragte, welchen sie nehmen sollte, antwortete ich sofort „den Roten!“, doch sie hörte nicht auf mich und nahm den Blauen. Ich war so kurz vor dem Derby natürlich nicht sonderlich erfreut über ihre Wahl, doch es sollte ihre Entscheidung sein, nicht meine. Ich zählte weiterhin die Tage, als Donnerstag und Freitag vergingen. Freitagabend saß ich mit Freunden in einer Bar und starrte auf den aufgehängten Bildschirm, weil das Spiel der Blauen gegen ihre Freunde vom Club lief. Ich war nicht ansprechbar vor Aufregung und Nervosität, hatte mich noch nie zuvor dermaßen auf ein Spiel gefreut – und noch nie zuvor dermaßen Angst vor einem Spiel gehabt. Ich lieh mir einen Stift, nahm eine ausliegende Serviette und begann mein Testament zu machen, denn ich wusste nicht, wie der darauffolgende Tag enden würde. Als ich in meinem Bett lag, hat es lange gedauert, bis ich schlafen konnte...
12. Mai 2007, 07:45 Uhr – mein Wecker reißt mich aus unruhigem, kurzem Schlaf. Ich besuche das BVB-Forum, doch das Forumsbild kann mir nur ein leichtes Schmunzeln entlocken. Nervös warte ich darauf, dass die Zeit vergeht, frühstücke nicht, ziehe mich an und schleiche zum Bus – die Faust in der Tasche geballt. Am Bahnhof angekommen würge ich mir ein belegtes Brötchen rein, begrüße meine Freunde und steige nervös in den Zug nach Dortmund. Die Stimmung ist ungewohnt angespannt, man merkt, dass heute ein besonderer Tag ist. Plötzlich klingelt mein Handy, die oben angesprochene Freundin ruft an: „Das Fischmännchen ist tot!“ Ein toter blauer Fisch, ein Omen? Gegen elf erreichen wir Dortmund, fahren zum Friedensplatz, es regnet und ich erinnere mich an die „Not For Sale!“-Demonstration. Ähnlich durchgeweicht wie damals erreiche ich das Stadion und nehme meinen gewohnten Platz ein, der Regen nimmt zu, es herrscht echtes Derbywetter... ich merke, dass die Atmosphäre anders ist als in den letzten Jahren. Und als die Spieler dann auf den Rasen kommen und Ringelstutzen tragen, weiß ich, was heute anders sein wird, als in den Jahren zuvor. Der Rest ist GEschichte.....
Geschrieben von NeusserJens
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