Stimmung im Stadion
Ich glaube, es handelt sich hier um ein gesellschaftliches Problem. Wir leben mittlerweile in einer Gesellschaft, welche mehr und mehr dazu neigt, jegliche eigene Kreativität in den Hintergrund zu stellen und sich dafür lieber von Dritten „bespaßen“ zu lassen. Die BVB-Fanabteilung, die hier im Forum ab und zu als eventueller „Heilsbringer“ in Sachen Stimmung gesehen wird, wird zwar versuchen, Hilfestellung in Sachen Stimmung zu leisten, im Endeffekt kann aber auch die FA keinen der 81.000 Stadionbesucher dazu zwingen, sich aktiv an der „Stimmungsmache“ zu beteiligen.
Im Gegenteil. Unser Versuch, die 09. Minute zu etablieren, ist schließlich kläglich gescheitert, weil - abgesehen vom ersten Versuch - in den folgenden Partien selbst große Teile der Südtribüne nicht mehr mitgesungen haben. Als Entschuldigung wurde übrigens (nachzulesen hier im Forum-Archiv) sehr häufig angemerkt, dass der Text zu schwierig zum Mitsingen sei... Das streite ich vehement ab, da es auf den Fan- oder Abteilungsversammlungen stets möglich war, unser Vereinslied von 300 oder mehr Leuten singen zu lassen, ohne dass der Text auf einer Videowand zu lesen gewesen wäre. Nein, die wenigsten derer, die den Text bislang nicht kennen, sind bereit, sich überhaupt die Mühe zu geben, den Text auch nur ansatzweise zu lernen. Das allein ist die Ursache des Scheiterns der 09. Minute.
Denkt doch mal an die alten (und ewig jungen) Klassiker, wie „Wir lagen träumend im Gras“. Dieses Lied hat einen sehr langen und schwierig zu lernenden Text. Trotzdem gab es Zeiten, in denen es ein Großteil der Fans auf der damaligen (kleineren) Südtribüne aus voller Kehle mitgesungen hat. Heute kennen zwar noch viele BVB-Fans das Lied, aber die wenigsten werden in der Lage sein, es komplett auswendig mitzusingen.
Und genau hier beißt sich doch die Katze in den Schwanz. Wenn nur noch die Wenigsten dazu bereit sind, sich kreativ oder aktiv einzubringen, verlieren nach und nach auch die letzten verbliebenen Stimmungsmacher die Lust. Was das Ende vom Lied sein wird, kann sich wohl jeder selbst ausmalen: amerikanische Verhältnisse, bei denen alles von der Organisation vorgegeben wird. Cheerleader, Musikeinspielungen (womöglich noch mit so einer Orgel), Discobeleuchtung, Nebelwerfer (Gruß nach Salzburg!) usw, usw.
Ich persönlich sehe die Hauptschuld an dieser Entwicklung auch nicht ursächlich im Ausbau der Südtribüne, sondern, wie bereits erwähnt, an unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Das beginnt nämlich bereits im Kindesalter, wo unser Nachwuchs nur noch vor dem Fernseher hockt und sich durch das TV-Programm oder durch PC- oder Konsolenspiele unterhalten lässt. Das Lesen eines Buches soll ja - laut diverser Untersuchungen - angeblich auch für Kinder eher die Ausnahme sein (Ausnahme der Ausnahme: Harry Potter). Ganz zu schweigen von der Förderung eigener Kreativität, da heute ja jegliche Unterhaltung kaufbereit im Laden liegt, sofern die Höhe des Taschengeldes stimmt.
Wo ich in meiner Kindheit noch "Käsekästchen" auf einem Rechenblatt gespielt habe, ist dieses Spiel heute in jedem Spielwarenladen oder Supermarkt erhältlich. Wo man „früher“ auf der Südtribüne einen Teil der Stimmung mitgetragen hat, kauft man sich heute den Saisonrückblick auf DVD und zieht sich die „ach so tolle“ Stadionatmosphäre über seine Dolby-Surround-Sound-Anlage auf der heimischen Couch rein. Ist halt einfacher, gemütlicher, bequemer und schont die Stimmbänder.
Ich weiß auch, dass es sehr viele Entwicklungen gibt, bei denen man die Zeit nicht mehr zurückdrehen kann. Vielleicht ist es halt so, dass sich alles weiter entwickeln muss – in welche Richtung auch immer. Vielleicht gehöre ich mittlerweile auch einer Minderheit an, weil die Mehrheit zufrieden mit der jetzigen Entwicklung ist. Vielleicht sehe ich auch zu schwarz mit meiner Prognose. Aber es wird niemand abstreiten können, dass es nicht mehr so ist, wie es einmal war.
Wo uns die weitere Entwicklung im Endeffekt hinführen wird und ob es bei uns im „Tempel“ wirklich mal so werden wird, wie in den US-Profiligen, vermag ich jetzt nicht zu beurteilen. Fragt mich vielleicht in zehn Jahren noch einmal danach.
Trotzdem bin ich der Meinung, dass man zumindest versuchen sollte, den Anfängen zu wehren. Nur ein Patentrezept habe ich (noch) nicht gefunden. In erster Linie wäre es wohl wichtig, dass sich jeder einzelne Stadionbesucher selbst hinterfragt, was er persönlich zu einer besseren Stimmung beitragen kann. Das halte ich bei 81.000 Stadionbesuchern leider für utopisch.
Aber vielleicht hat ja doch irgendjemand die ultimative Lösung. Entsprechende konstruktive Vorschläge nimmt die BVB-Fanabteilung übrigens sehr gerne entgegen.
Geschrieben von Guido Schnittker
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