Powered by emotion
Satte 5 Tore konnten der BVB und seine Anhänger heute bejubeln, 4 schwatzgelbe und eins von einem Nürnberger. Das unglaubliche ist tatsächlich eingetreten und Altmeister Alfred Hitchcock hätte es nicht besser dramatisieren können: Einen Spieltag vor Schluss trennen den neuen Spitzenreiter Borussia Dortmund und den "Dauerzweiten" aus Leverkusen nur noch ein mickriges Pünktchen. Doch schlimmer noch! Als ob das im Nacken lauernde Bayerkartell nicht schon schlimm genug wäre, ziehen über dem Westfalenstadion auch noch drohende Gewitterwolken aus München herauf...
Ganz wie die Fans im Block haben sich wohl auch die schwatzgelben Akteure auf dem Rasen das Motto "Der wilde Westen zeigt heute was er kann" auf die Fahnen geschrieben. Die mitgereiste Anhängerschaft brüllte aus ca. 5000 Kehlen immer wieder das Lied von der Meisterschaft. Bedingungslos wurde die Mannschaft mit tollem Einsatz angefeuert (den man in letzter Zeit desöfteren vermisst hatte) und so zeigte sie - Ausnahme Jens Lehmann - eine ihrer besten Saisonleistungen.
Sofort geht's zur Sache
Die Nerven liegen von Beginn an blank, das merkt man sofort, zuviel steht für den BVB auf dem Spiel. Matthias Sammer hüpft auf der Seitenlinie auf und ab und lässt nichts aus, um wild gestikulierend in das Spielgeschehen einzugreifen. Nach einem bösen Foul an Rosicky bricht der Vulkan Sammer dann aus. Mit weit aufgerissenen Augen, für die ein "normaler" Mensch wohl einen Waffenschein braucht, und empor gerissenen Armen, springt er regelrecht von der Trainerbank auf und kickt den heranrollenden Ball zurück aufs Spielfeld und trifft dabei, natürlich total unabsichtlich, Sergej Barbarez. Das ist Schiri Fandel wohl zu viel des Guten und er schickt Sammer schon nach 16 Minuten auf die Tribüne.
Das Sammer aber momentan jede Hürde nimmt, beweist er einmal mehr, indem er sich locker mit einem artistischen Schwung über den Zaun katapultiert. Augenzwinkernd merkt er nach dem Spiel noch an, dass er gar nicht wusste, dass er nach so hart schießen könne.
Sammers Verbannung vom Platz ist wohl genau zum richtigen Zeitpunkt ausgesprochen worden, denn man möchte sich gar nicht mehr vorstellen, wie hoch die Anspannung in ihm nach der Verkündung der 1:0 Führung der Nürnberger gewesen sein muss. Im Borussen-Block entlädt sich diese Freude durch kollektiven Jubel, wie man ihn eigentlich nur in einem Fußballstadion erleben kann! Tausende Menschen hüpfen wie bekloppt auf und ab, fallen sich in die Arme und fühlen einen Moment der inneren Freude, den man weder beschreiben, noch kaum überbieten kann. Doch damit noch nicht genug. Der sowieso schon viel zu hohe Puls wird noch mal auf eine letzte Probe gestellt.
Marcio macht's
36 Minuten sind gespielt, da dringt Marcio Amoroso in den Hamburger Strafraum ein und wird kurz vor dem Tor von Ingo Hertzsch gelegt und der Hamburger sieht dafür auch noch Rot. Das heftige Pochen in der Schläfe eines jeden Borussen, egal wo er gerade ist, würde locker eine 5 auf der Richter-Skala schaffen. Die Pulsader hält dem Druck kaum noch stand, doch Marcio, dieser Eiswürfel, verlädt Pieckenhagen und schiebt den Ball locker ins Tor. Nun ist die Stimmung auf dem Höhepunkt, es gibt nichts mehr zu halten. Selbst "ran" hält mal länger mit der Kamera auf den scheinbar explodierenden BVB-Block und untermauert endlich sein Motto: "Powered by emotion".
Doch was macht Sammer? Eben noch wie ein Berserker ausgeflippt, jetzt ganz ruhig und besonnen. Nur ein Lächeln ist ihm das Tor wert. Was muss noch passieren, damit er mal aus sich herausgeht?
Abpfiff, pfeif jetzt schon ab, besser kann's nicht kommen. Knapp 40 Minuten sind gespielt und man schimpft auf Sepp Herberger´s Theorie wonach (s)ein Spiel nun mal leider doch 90 Minuten dauert. Lange 48 Minuten wird's noch dauern, 2880 Sekunden zittern und permanent nach Nürnberg schielen. Doch wie schon gegen Köln zeigt Tomas Rosicky erneut wie wichtig er für den BVB ist. Amoroso spielt ihn Weltklasse mit einem Diagonalpass frei und der tschechische Auswahlspieler muss nur noch aus etwa 8 Metern verwandeln. 2:0, na gut, den einen neben wir gerne noch mit, doch jetzt könnte Schiri Fandel das Spiel gern mit einem gellenden Pfiff beenden und am besten das in Nürnberg gleich mit. Und er kommt auch, dieser Pfiff! Doch leider deutet er dabei auf den Kreisepunkt, übler weise auch noch auf den im schwatzgelben Strafraum. Wörns war hart wie unnötig an der Strafraumgrenze gegen Barbarez zum Kopfball gestiegen und hatte sich selbst leicht und den Bosnier dabei böse verletzt. Obendrauf gab's auch noch Gelb- Rot und die Kräfteverhältnisse waren nominell wieder hergestellt. Unnötig wie ein Kropf! Wie Amoroso eben, schießt Wicky den Ball ganz locker ins Netz und die Euphorie schlägt um in pures Entsetzen. Nur noch 2:1, jetzt erst mal die Führung in die Halbzeit retten. Die Hamburger werden immer stärker, Hollerbach prüft Lehmann, doch der BVB-Schlussmann pariert. Schiri Fandel schickt beide Mannschaften kurz darauf in die Kabinen, 15 Minuten regenerieren und erholen sind angesagt. Kurz die Vital Funktionen überprüft und es geht schon wieder los.
Der HSV dreht auf
Beide Mannschaften kommen topmotiviert aus den Kabinen, Sammer kehrt zurück auf die Tribüne und Uwe Neuhaus nimmt für die restlichen Spielminuten wieder seinen Part ein. Fortan ist auch er der Erste, der aufspringt und mit dem Linienrichter debattiert. Handgestoppte 3 Sekunden braucht er um von Trainerbank zu seinem Chef an die Tribüne hoch zu jumpen und Instruktionen entgegen zu nehmen. Die BVB-Akteure auf dem Rasen verhalten sich aber eher defensiv, denn der HSV zieht ein richtiges Offensiv-Powerplay auf und hat sichtbar kein Mitleid mit dem arg strapazierten schwatzgelben Nervenkostüm. Der Ausgleich liegt desöfteren in der Luft, doch Borussia zeigt heute, dass man doch eine Klassemannschaft ist. Aus dem Würgegriff der Hanseaten befreit den BVB erneut eindrucksvoll. Topgetter Marcio Amoroso markiert nach einem Foul von Uyfalusi an Koller von der Strafraumkante im Nachschuss seines in die Mauer geschossenen Freistoss sein 18. Saisontor. Was für ein Hammer!!! Die Euphorie und der Glaube an das Unglaubliche kehren zurück, zudem liegt ja der größte Widersacher Leverkusen immer noch mit 1:0 zurück liegt. Die bange Frage nun, wie reagiert Sammer? Freudentaumelndes stillsitzen oder gar euphorisches kopfschütteln? Nein, nichts von alledem! Sammer reißt die Arme in die Luft und jubelt mit einem Grinsen, was seine bösen Mienen mitunter voll entschädigt. Der "Trainer Sammer", scheinbar so berechenbar und doch so individuell verschieden anzuschauen.
Der HSV beweist aber wie schon gegen Leverkusen vor 2 Wochen seine Heimstärke, wenn es gegen große Mannschaft geht. Anscheinend überhaupt nicht geschockt rennen die Hanseaten weiter auf das Tor von Jens Lehmann an und werden nach 80 Minuten belohnt. Nach einer harmlosen Ecke rennt der völlig indisponierte Jens Lehmann (was ihn da wohl geritten hat, wird sein Geheimnis bleiben) etwa 12 Meter aus seinem Gehäuse eigene Spieler um, so dass der Ball über mehrere Fehlschläge zu Hoogma kommt der nur noch seelenruhig zum 2:3 Anschlusstreffer abstauben kann. Völlig überzogene, denn bis dato köpfte die geschickt agierende Dortmunder Hintermannschaft nahezu alles aus dem 16´er raus! Fortan geht das Zittern wieder los. Doch die Zeit verrinnt für den BVB, sowohl in Hamburg als auch in Nürnberg.
Koller mit der Entscheidung
Und 8 Minuten vor Schluss scheint dann endgültig alles klar zu sein. Jan Koller wird von Otto Addo mustergültig bedient und braucht den Ball nur noch über die Torlinie zu drücken. 4:2, das muss doch die Entscheidung sein. Erneut droht der BVB-Block überzukochen und dazu kommt noch, das der bärenstark um den Klassenverbleib fightende "Club" weiterhin mit einem Tor in Front liegt. Den Blick der Borussen haben sie längst mehrheitlich Richtung Nürnberger Frankenstadion gerichtet, jenen Ort, wo sich das Ende aller Leverkusener Meisterträume abzuzeichnen scheinen. In den Jubel, die letzten Sekunden in Nürnberg verstreichen zu sehen, fällt der erneute Anschluss für die Hamburger durch ein Traumtor von Erik Meijer (90.), der eine turbulente Endphase in den Schlussminuten einleitet, die wirklich keiner brauchte.
Sekunden können manchmal endlos sein, das merkt man spätestens jetzt. Um 17.18 Uhr ist es dann endlich soweit. Das Bangen hatte ein Ende, alles was schwatzgelb ist, liegt sich in den Armen und kann das eigene Glück kaum fassen. Der ewige zweite, die Lachnummer der Nation Bayer Leverkusen hat schon wieder gepatzt und der BVB ist vor dem finalen Spieltag Tabellenführer. Nun hat man es selbst in der Hand und die Mannschaft scheint die Nervenstärke zu haben, das hat man heute gesehen. Im Gegensatz zum Trainer...
Fazit:
Der BVB siegt vollkommen zurecht im Hamburger Volkspark, jedoch hätte man die Dramatik bei den Gegentoren getrost vermeiden können. Wie dem auch sei, der Himmel hängt nun wieder voller Geigen und alles ist möglich! Wer hätte gedacht, dass es Medien wie Öffentlichkeit tatsächlich schaffen würden, der Werkself über die Woche das legendäre "Unterhaching- Syndrom" wieder einzureden? Wollen wir nur hoffen, dass die Dortmunder jetzt in dieser Woche vor diesem richtungsweisenden Spiel nicht nach rechts oder links hören und sehen und Konzentration auf das Saisonziel in jeder Beziehung Vorrang genießt. Dann werden wir in 7 Tagen DEUTSCHER MEISTER sein. Unfassbar!
Die Daten zum Spiel:
BVB: Lehmann 4 - Metzelder 3; Wörns (-); Heinrich 3 - Reuter 3,5; Kehl 2,5; Rosicky 1,5; Ricken 3 - Addo 2,5; Koller 2; Amoroso 1,5
HSV: Pieckenhagen - Fukal, Hertzsch, Hoogma, Ujfalusi - Groth, Wicky, Hollerbach - Barbarez - Meijer, Romeo
Schiedsrichter: Herbert Fandel; 2,5; lag bei beiden Elfmetern goldrichtig, nur die Hinausstellung von Wörns war überzogen.
Auswechslungen: 44. Antar für Barbarez, 70. Benjamin für Fukal, 82. Ketelaer für Wicky - 43. Kohler für Ricken, 89. Oliseh für Kehl, 92. Ewerthon für Amoroso
Zuschauer: 55340 (ausverkauft)
Rote Karten: Hertzsch (33., Notbremse)
Gelb-Rote Karten: Wörns (41.)
Gelbe Karten: Barbarez, Hollerbach, Ujfalusi, Meijer - Addo, Amoroso