Neues aus Block 11 - I gave you all the best years of my life…
Es war etwa Mitte der zweiten Halbzeit, als ich mir die Frage gestellt habe, kurz nach der 70. Minute. Um mich herum hörte ich die ersten Mutlosen spekulieren: Dass der Plastikclub aus der Farbenstadt wenigstens führen würde. Dass die Bayern zumindest nicht schon wieder die Schale in Händen halten würden.
Etwa zu diesem Zeitpunkt habe ich sie mir gestellt, die Frage: Wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich mich nie für Fußball interessiert hätte; wenn ich weiter mit meinem kleinen Bruder zusammen gequengelt hätte, dass wir lieber „Daktari“ als die blöde Sportschau sehen wollten, auf die mein Großvater nie verzichten konnte. Damals, als die Welt im Fernsehen noch schwarz-weiß und nicht schwatzgelb war. Und wenn ich mich nicht ausgerechnet in diesen Club verliebt hätte, dem zumindest der münsterländische Teil meiner Verwandtschaft bis heute verständnislos bis ablehnend gegenübersteht.
Mir wäre vieles erspart geblieben. Der Schmerz beim Abstieg meiner gerade ins Herz geschlossenen Geliebten 1972. Die Häme, die mir entgegenschlug, als ich bei unserer einheitlich blau-weiß gekleideten Straßenmannschaft als einziger im schwatzgelben Trikot auflief. All das Theater um nicht gemachte Hausaufgaben, weil ich lieber zum Pöhlen auf die Wiese ging. Die bittere Erkenntnis, die mich mit 14 beschlich, dass es trotz zwei, drei direkt verwandelter Ecken nicht zum Nachfolger von Günter Netzer reichen würde, als der ich natürlich bei der richtigen, schwatzgelben Borussia spielen wollte. Aber wenn man immer einer der letzten ist, die gewählt werden, dann sollte man frühzeitig Abschied von der aktiven Laufbahn nehmen oder den Blick in die Niederungen der Kreisliga B oder C richten.
Ich würde nicht das Gefühl kennen, dass ich gleich losheule, weil ich meine erste Bundesliganiederlage im Westfalenstadion erlebte (0:2 gegen den VfL Bochum – und dass sie verdient war, machte es keineswegs besser). Ich würde die verständnislosen Blicke diverser junger Damen nicht kennen, wenn ich mich weigerte, mich am Samstagnachmittag mit ihnen zu verabreden und mit dem Grund herausrückte. „Fußball? Igitt. Und ich dachte, Du wärst ein netter Junge“, sagten die Blicke.
Und was hatte ich davon: Solche Erlebnisse wie das 0:3 gegen die falsche Borussia im letzten Saisonspiel 1981, als wir nur noch einen Punkt brauchten, um vor den grün-weiß-grauenhaften in den UEFA-Pokal einzuziehen. Das 0:2 im ersten Relegationsspiel gegen Fortuna Köln, für das ich mit tausenden anderen Schwatzgelben ins Müngersdorfer Stadion gefahren war. Das 1:2 des Plastikclubs gegen zehn Stuttgarter in der 86. Minute des letzten Spieltages 1992, das uns die Meisterschaft gekostet hat (und mich meine erste. Manchmal lässt sich der Fußballgott eben zehn Jahre Zeit, bis er Gerechtigkeit schafft).
All die Samstag- und Sonntagnachmittage liefen vor meinem inneren Auge ab, die ich mit unverhofften Niederlagen gegen Fortuna Düsseldorf oder mit grauenhaft langweiligen Partien gegen den VfL Bochum, Wattenscheid 09 oder Waldhof Mannheim verbracht habe. Zeit, in der ich mich mit Freunden hätte treffen können, Museen besuchen, gute Bücher hätte lesen können - oder meine Pläne vorantreiben, einer der größten Gitarristen der Rockgeschichte zu werden (die allerdings noch kläglicher scheiterten, als die Pläne, Mittelfeldregisseur bei den nächsten großen Erfolgen der Schwatzgelben und der Nationalmannschaft zu sein).
All die Feten, die ich nicht mitgefeiert habe, weil ich zielsicher den Fernseher des Gastgebers fand, um die Tore des Spieltags noch einmal in der ZDF-Sportreportage zu sehen – oder weil ich mich ins Auto verdrückte, um die Schlusskonferenz der Bundesliga oder die Reportage vom Europapokalabend zu hören. Ein Verhalten, dass meine Familie und meine Freunde – ich befürchte zurecht – an meinem Verstand zweifeln lässt.
Und mitten in dieser Sinnkrise, während mein „kleiner“ Bruder, der auch längst von Daktari losgekommen ist, neben mir eine Zigarette nach der anderen raucht - mitten in dieser Krise meines Lebens startet Rosicky wieder zu einem seiner vergeblichen Vorstöße Richtung Bremer Tor. Wird gefoult. Kommt trotzdem wieder an den Ball und wuchtet ihn irgendwie in den Strafraum. Dede springt und trifft in der Drehung die Kugel. Ich sehe die Flanke, sehe, wie der lange Koller hochsteigt. Sehe wie der Ball über ihn hinwegrauscht, sehe, wie er sich am langen Pfosten senkt, wo Ewerthon kommt, sehe, wie er aufs Tor schießt, denke eine Hunderstelsekunde „Nein, nicht schon wieder Pfosten“ – und dann. Tor! Toor! Toooooooor! Jaaa! Jaaa! Jaaaaaaaa! Booorussssiaaaaaaaa!
P.S. Nein, ich habe noch nie laut vor Verzückung gebrüllt, wenn ich ein gutes Buch gelesen habe. Nein, ich habe mich weder im Louvre noch im Museum am Ostwall wie ein Idiot aufgeführt, bin wie ein Irrer herumgesprungen und habe wildfremde Menschen an mich gerissen. Ich habe den Namen von Marcel Reich-Ranicky beim literarischen Quartett nie so voller Enthusiasmus herausgeschrieen wie den Namen eines 19-jährigen schmächtigen Brasilianers, als ich sein Tor zwei Stunden nach Spielende im Fernsehen in einer Kneipe gesehen habe. Mir würde es im wirklichen Leben nie einfallen, Menschen aufgrund ihrer Kleidung mit Schmähgesängen zu kränken (nicht einmal, wenn sie etwas blau-weißes tragen). Ich bin weder nachtragend noch schadenfroh und habe Freunde, die aus Bayern stammen.
Fußball kann Gefühle vermitteln
und freisetzen, die das wirkliche Leben nur selten bereithält, die süchtig
machen, die mich doch wieder jeden Samstag ins Stadion ziehen. Ein Manager des
FC Liverpool soll einmal gesagt haben: „So, wie manche Menschen über Fußball
reden, könnte man meinen, es ginge um Leben und Tod. Sie haben keine Ahnung. Es
geht um weitaus mehr.“