Eua Senf

Stille

23.12.2006, 00:00 Uhr von:  Gastautor

Sonntag Abend, ca. 21.00 Uhr. Ich liege im Bett und versuche das eben erlebte zu verstehen. Wie ich es schon auf dem Weg nach hause versucht habe. Ein flüchtiger Kuss für meine Frau, danach ging der Weg schnurstracks ins Bett, unfähig zu weiterer Konversation. Dort ist es dunkel und vor allem eines: still. Von irgendwo, ob von draußen oder den Nachbarn erschließt sich mir nicht mehr, höre ich leise das Weihnachtslied "Stille nach, heilige Nacht". Stimmt, fällt es mir ein, in einer Woche ist Weihnachten, Fest der Liebe, Fest der Beschaulichkeit, Fest der Ruhe. Ach wie wäre es doch schön, wenn ich diese Ruhe auch drei Stunden vorher hätte genießen können.

Prolog (ausnahmsweise nicht ganz am Anfang) Sonntag 16.00.

Der (Spiel-)tag beginnt wie immer. Ein Bierchen am Bierwagen vorm Stadion, dann rein ins Stadion und auf unseren angestammten Platz auf der Süd. Die Erwartungen? Gering! Der Plan, schon mittags mit dem Konsum von Bier zu beginnen, da das zu erwartende Spiel im Suff immerhin schöner bis in mein innerstes durchgedrungen wäre, wurde wieder verworfen. Irgendwas wollte die Familie dann doch noch von mir haben an diesem dritten Adventssonntag.

Das Vorspiel: Relativ ruhig, aber das hatte ich ja schon erwartet. Da ich mit den Leistungen der Mannschaft auch nicht einverstanden war, war das Ausbleiben von Stimmungsgesängen vor dem Spiel auch in meinem Sinne. Was ich allerdings nicht verstanden habe, war die Missachtung des Kinderchores. Ok, es waren aus welchem Grund auch immer, nicht die üblichen Sternenkinder, aber die Kinder können nun am wenigstens etwas für die Situation. Das Spiel begann für mich mit der Hoffnung, der Support für die Heimmannschaft würde nun auch einsetzen. Doch die ersten "Wir wolln Euch kämpfen sehen" Gesänge nach geschätzten 5 Spielsekunden belehrten mich eines besseren und verursachten das erste flaue Gefühl in der Magengegend.

Sonntag 21.30:

Ich wälze mich hin und her an Schlaf ist nicht zu denken. Ich schwelge in Erinnerungen an schöne Spiele, die ich miterleben durfte. Aber auch bittere Momente prägen sich wieder in mein Gedächtnis. Ich denke an die Hinrunde. An wirklich grottenschlechte Spiele. An späte Tore, die in mir keinen Jubelsturm verursacht habe, sondern eher zu einer wegwerfenden Handbewegung und einem bitteren Lächeln geführt haben (Bielefeld, Wolfsburg). An schweigende Menschen auf der Tribüne, die erst zu leben begannen, als es hieß, schon weit vor Spielende zu pfeifen oder (aus heutiger Sicht) harmlose Schmähgesänge zu rufen. All das war nicht schön, aber nichts gegen dass, was ich heute erlebt habe.

Sonntag 17.50

Die erste Halbzeit ist vorbei und was bleibt übrig? Entsetzen über eine derart schweigsame "Gelbe Wand". Die zaghaften "Dortmund" Anfeuerungen blieben Stückwerk und waren bei uns sogar nur noch zweistimmig zu vernehmen. Das Spiel? Von uns eher mau, angesichts der äußeren Umstände hatte ich aber nichts anderes erwartet.

In der Pause äußerte die "zweite Stimme" zum ersten Mal den Wunsch das Spiel doch in einer Kneipe zu Ende zu gucken. Ich dachte erst an einen Scherz, so weit war ich dann doch noch nicht. Ich konnte ihn dann noch zum Bleiben überreden. Ein Fehler, wie ich später merkte.

Sonntag 22.00

Das Grübeln nimmt kein Ende, aus der anfänglichen Wut wird Resignation. Was war passiert? Komme ich wirklich von der Südtribüne. War es überhaupt die Südtribüne? Nein war es natürlich nicht, dann das was da heute passiert ist, können nicht die "besten fans der Liga" (Ha Ha Ha) gewesen sein. Oder doch?

Sonntag 18.25

Ich bin nur noch fassungslos was hier abläuft. 19-jährige Spieler werden verhöhnt, die Welle gestartet, ein Foul an einem der unsrigen frenetisch bejubelt. Aber was soll ich noch ausführen, das dürfte wohl allen bekannt sein. Vor allem: Die "Fans" um uns herum, die ansonsten weder Zähne auseinander - noch Hände zusammenbekommen - alle singen, tanzen und klatschen frenetisch mit. Hinter mir höre orgasmusähnliche Laute der Begeisterung, wo sonst lediglich ein "Kringe die Drecksau" zu vernehmen ist. Führen wir mit 5:0? Nein, es ist etwas anderes, etwas das ich nicht verstehen will und auch nicht kann. Meine Faust ballt sich in der Tasche, mein Kollege hört meine Worte: "ich hau dem hinter mir gleich eine rein, wenn das so weiter geht." Klar eine flapsige Bemerkung, nicht ernst gemeint. Wirklich nicht? Wieder ein Gedanke, der mich erschreckt. Kannte es von mir eigentlich nicht, dass ich zu solchen Hassgefühlen fähig war, zumindest nicht gegenüber Personen, die keine Blau-weissen Klamotten tragen. Aber sind wir denn die einzigen, die sehen, dass sich die Mannschaft heute bemüht und zumindest in der zweiten Halbzeit gar keinen so schlechten Fußball spielt. Mit ein bisschen Unterstützung wäre hier sogar noch etwas drin!!!

Sonntag 18.30

Jetzt reicht es. Wieder einmal war der 19-jährige Tyrala Ziel der Schmähungen. Wutentbrannt drehe ich mich um, schaue in hasserfüllte Gesichter und frage, was die ganze Aktion denn solle. Ok, die Wortwahl war wohl etwas direkter, aber ich war sozusagen hilflos meinem Frust ausgeliefert, einen Frust den ich trotz erbärmlicher Spielweise aufgrund der sportlichen Leistung so noch nicht gespürt hatte. Erst jetzt, und wer war schuld daran: Die eigenen Fans. Irrwitziger geht es doch wohl kaum. Eine Antwort bekam ich nicht, scheinbar fiel ihnen selber keine ein. Es kam mir so vor dass es gerade "in" war, die Mannschaft zu verhöhnen. Doch ich schaffte es, die Gruppe immerhin 10 Sekunden zum Schweigen zu bringen. Ein Schweigen, dass dann jäh durch einen Jubelchor unterbrochen wurde. Ich sah mich um und war erstaunt, dass sich meine Fassungslosigkeit noch steigern konnte. Es war das 2:0 und die Leute um uns herum flippten vor Freude aus. Welches Liedgut dann angestimmt wurde, weiß wohl jeder. Das war zuviel für uns und zum ersten mal nach über 10 Jahren verließ ich die Tribüne vor Spielschluss. Kein noch so schlechtes Spiel haben mich dazu gebracht, nur jetzt die eigenen Fans. Die anschließende Bierdusche (sehr mutig von hinten) galt ganz eindeutig mir und nur die zahlenmäßige Überlegenheit der Werfer hinderte mich daran, zum ersten mal nach ca. 25 Jahren mal wieder eine Schlägerei anzuzetteln.

Sonntag 22:30

Immer noch im Bett, immer noch die Stille genießend. Was war das Heute? Auf jeden Fall der schwärzeste Tag meines Fandaseins, schlimmer als Ulm und auch jede sportliche Enttäuschung. Fan des BVB zu sein, hieß für mich auch immer, ein Stück weit stolz zu sein, auf eine besondere Fankultur - und das ist ehrlich gesagt komplett weg. Die Mannschaft bestrafen für schlechte Spiele vorher, ok. Aber das was an diesem dritten Adventssonntag passiert ist, hat etwas in mir kaputt gemacht.

Komme ich wieder? Wohl doch, in der Hoffnung dass so etwas wie gestern nicht mehr vorkommt. Und wenn doch? Dann haben es die Fans geschafft was die Mannschaft mit vielen Grottenkicks nicht geschafft hat Mit diesen Gedanken schlafe ich dann doch noch ein, im Traum höre ich leise "Stille Nacht....".

Epilog

In der Bahn zu Hause mokieren sich fast alle umstehenden darüber, dass abgesehen von Florian Kringe keiner aus der Mannschaft den "Arsch in der Hose" gehabt habe, zu den Fans zu kommen. Mein Einwand, das ich das nach diesem Spiel auch nicht gemacht hätte, stieß auf völliges Unverständnis und so vermied ich dann jegliches Eingreifen in die ausufernde Diskussion.

Die Fernsehbilder am Montag verstärkten meine Einschätzung. Unten am Zaun hingen keine Fans, sondern ich sah nur hasserfüllte monsterähnliche Fratzen. Es fehlte nur der Schaum vorm Mund. Nicht dass mich einer falsch versteht: Die Spieler müssen sich auch Kritik gefallen lassen, keine Frage. Doch was wirklich passiert wäre, wenn die Mannschaft zu den "Fans" gekommen wäre, will ich mir nicht vorstellen. Ich bin nur sicher, mit sachlicher Kritik hätte das nichts zu tun gehabt.

Und um es noch einmal zu sagen: das Spiel des BVB war in der zweiten Halbzeit ok, mit ein bisschen Glück wäre ein Unentschieden drin gewesen. Aber auf das Spiel hat eine Mehrheit ja eh nicht mehr geachtet.

In diesem Sinne eine fröhliche und besinnliche Weihnacht

Martin

Geschrieben von Martin Kloos

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